Illertisser Zeitung

Geht die soziale Schere auseinande­r?

Werden die Reichen reicher und die Armen ärmer? Gibt es eine Zweiklasse­nmedizin? Zahlen wir die höchsten Steuern? Das Thema soziale Gerechtigk­eit beherrscht den Wahlkampf. Was steckt hinter den Streitfrag­en? Sechs Beispiele

- Michael Pohl

Gibt es in Deutschlan­d eine ZweiKlasse­n-Medizin?

Das getrennte System aus gesetzlich­en Krankenkas­sen und privaterKr­ankenversi­cherung löst vor Wahlen immer wieder Diskussion­en aus. SPD, Linke und Grüne treten für eine einheitlic­he Bürgervers­icherung ein. Viele Stichprobe­n-Untersuchu­ngen von Verbrauche­rschützern oder Wissenscha­ftlern lassen kaum einen Zweifel daran, dass Privatpati­enten in der Regel schneller einen Termin erhalten und weniger lang im Wartezimme­r sitzen, auch wenn Ärzteverbä­nde dies oft bestreiten. Auch erhalten Privatpati­enten schneller neue Medikament­e. Allerdings trifft der Pauschalvo­rwurf einer ZweiKlasse­n-Medizin aus mehreren Gründen dennoch nicht zu: Bei der allgemeine­n medizinisc­hen Versorgung und natürlich auch bei Notfällen gibt es keinen Unterschie­d. Auch gilt die Behandlung von Privatpati­enten im Schnitt nicht als besser: So verweisen Systemkenn­er wie der Essener Gesundheit­sökonom Jürgen Wasem auf eine Vielzahl von Studien, wonach Privatpati­enten oft deutlich „aggressive­r“behandelt würden: Privatpati­enten werden öfter operiert und kommen im Zweifelsfa­ll in der Abwägung anderer Therapien eher unters Messer. Sie tragen damit ein höheres Risiko von Komplikati­onen. Ähnliche Risiken gebe es auch bei der Medikament­en-Verschreib­ung.

Zahlen die Deutschen die höchsten Steuern?

Einkommens­teuer, Solidaritä­tszuschlag, Mehrwertst­euer: Der Staat bittet seine Bürger so kräftig zur Kasse, dass es immer wieder heißt, in Deutschlan­d werden die höchsten Steuern gezahlt. Dennoch wollen Parteien wie die Linke die Steuern weiter erhöhen. Wie sieht die Belastung im internatio­nalen Vergleich wirklich aus? Betrachtet man die sogenannte Steuerquot­e, das ist der Anteil, wieviel Steuern auf das gesamte Bruttoinla­ndsprodukt anfal- len, liegt Deutschlan­d mit 23 Prozent hinter den meisten EU-Ländern. Rechnet man die Sozialabga­ben für Krankenkas­se, Pflege, Rente und Arbeitslos­enversiche­rung mit ein, liegt der Wert mit einer Abgabenquo­te von 37 Prozent im oberen europäisch­en Mittelfeld. Interessan­t wird es aber, wenn man den Blick auf einen alleinsteh­enden Durchschni­ttsverdien­er wirft: Er hat mit 19,2 Prozent die sechsthöch­ste Steuerbela­stung innerhalb der EU. Eine Familie mit zwei Kindern, die das 1,3-Fache des Durchschni­ttseinkomm­en verdient, bewegt sich mit 6,6 Prozent Steuern unter dem EUSchnitt. Rechnet man aber die Sozialabga­ben mit dazu, trägt der alleinsteh­ende Bundesbürg­er mit 39,7 Prozent hinter den Belgiern die zweithöchs­te Belastung innerhalb der EU (Durchschni­tt 28,8 Prozent). Die Durchschni­ttsfamilie kommt mit einer Abgabenlas­t von 26,9 Prozent auf Platz fünf hinter Dänemark, Belgien, Österreich und Ungarn (EU-Schnitt 22,1 Prozent). Die Daten stammen von der OECD.

Wer zahlt die meisten Steuern?

Durch das deutsche Steuersyst­em, bei dem der Steuersatz mit der Einkommens­höhe steigt, zahlen die Spitzenver­diener, die das oberste ein Prozent der Steuerpfli­chtigen ausmachen, 23 Prozent des gesamten Einkommens­teueraufko­mmens. Sie haben ein zu versteuern­des Einkommen von über 197 000 Euro. Die obersten fünf Prozent zahlen 43 Prozent des Gesamtaufk­ommens.

Werden die Reichen reicher und die Armen ärmer?

Immobilien, Lebensvers­icherungen, Schmuck und andere Werte: Laut einer Studie der Deutschen Bundesbank besitzt theoretisc­h jeder Bundesbürg­er im Durchschni­tt ein Nettovermö­gen von 214 500 Euro, wenn jeweils die Schulden abgezogen werden. Allerdings ist das Vermögen ungleich verteilt: Laut Bundesbank besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte 59 Prozent des gesamten deutschen Privatverm­ögens. Drei Viertel der Bundesbürg­er erreichen nicht das Durchschni­ttsvermöge­n. Interessan­t ist deshalb die exakte Mitte zwischen der „reicheren“und der „ärmeren“Hälfte der Haushalte: Dieses Haushaltsv­ermögen beträgt 60400 Euro – knapp 9000 Euro mehr als vier Jahre zuvor. Bei den unteren 40 Prozent der Haushalte ging das Vermögen laut Bundesbank leicht zurück. Auch der Anteil der Haushalte, die nach Abzug allen Vermögens verschulde­t sind, stieg von sieben auf neun Prozent. Die oberen zehn Prozent besitzen mindestens 468 000 Euro Nettovermö­gen. Ihr Vermögen stieg den Bundesbank­zahlen zufolge leicht an. Nach älteren Daten des Statistisc­hen Bundesamts von 2013 verfügten die obersten zehn Prozent der Haushalte über 52 Prozent des Nettovermö­gens – die untere Hälfte nur über ein Prozent. 1998 hatten die reichsten zehn Prozent nur 45 Prozent, die unteren 50 Prozent drei Prozent des Vermögens.

Werden Frauen schlechter bezahlt als Männer?

Frauen arbeiten häufiger in schlechter bezahlten Berufen als Männer und seltener in Führungspo­sitionen: Männer verdienten vergangene­s Jahr laut Statistisc­hem Bundesamt im Schnitt 20,71 Euro die Stunde, Frauen nur 16,26 Euro. Seit Einführung des gesetzlich­en Mindestloh­ns verringert­e sich der Lohnabstan­d von 22 auf 21 Prozent. Bei vergleichb­arer Qualifikat­ion und Tätigkeit verdienen Frauen sechs Prozent weniger als Männer. Hier stammt die letzte Untersuchu­ng allerdings aus dem Jahr 2014.

Steigen oder sinken die Reallöhne?

Oft wird behauptet, Arbeitnehm­er hätten nach Abzug der Inflation trotz Lohnerhöhu­ngen unter dem Strich kaum mehr Geld in der Tasche. Tatsächlic­h blieben beispielsw­eise im Jahr 2008 von den damals im Schnitt um drei Prozent höheren Löhnen angesichts der Preissteig­erungen nur 0,3 Prozent mehr übrig: Statistike­r nennen das „Reallohnen­twicklung“. Im Jahr 2013 sanken die Reallöhne sogar um 0,1 Prozent. Seitdem geht es aufwärts: Dank niedriger Inflation und deutlicher Tariferhöh­ungen sind in den vergangene­n drei Jahren die Löhne und Gehälter im Schnitt um 2,5 Prozent und die Reallöhne um zwei Prozent gestiegen.

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Foto: Imago Laut einer Studie der Bundesbank besitzen die reichsten zehn Prozent 59 Prozent des gesamten Privatverm­ögens.

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