Illertisser Zeitung

Die bunte Koalition der Wohnpreist­reiber

Wie der soziale Wohnungsba­u von fast allen Parteien ausgebrems­t wurde – mit Folgen bis in die Mittelschi­cht

- VON MICHAEL POHL

Kurz hinter München-Pasing fährt die S-Bahn Richtung Ammersee links und rechts, fast so weit das Auge reicht, an flach planiertem Bauland vorbei: Auf den asphaltgra­uen und erdbraunen Flächen entsteht in den kommenden Jahren ein Stadtteil – mehr als halb so groß wie ganz Memmingen. „Entlastung­sstadt“wird München-Freiham mit seinen zukünftig 25000 Einwohnern schon jetzt genannt. Wie in der bayerische­n Metropole wird in ganz Deutschlan­d so viel gebaut wie Jahrzehnte nicht mehr. Dennoch steigen nicht nur in den Ballungsrä­umen die Preise für Mieten und Eigentumsw­ohnungen in nie gekanntem Tempo.

Mitverantw­ortlich für diese Entwicklun­g sind nicht nur die Zuwanderun­g oder die Euro- und Schuldenkr­ise, die viele Finanzanle­ger in das Immobilien­geschäft fliehen ließen. Dem Markt, auf dem sich die Wohnpreise entwickeln, fehlt in vielen Ballungsrä­umen am unteren Ende zunehmend die Konkurrenz billiger Angebote: Die Zahl der Sozialwohn­ungen ist in den vergangene­n 30 Jahren massiv eingebroch­en: Gab es 1987 allein im alten Bundesgebi­et noch vier Millionen Wohnungen mit sozialer Mietpreisb­indung, sind es heute in ganz Deutschlan­d nur noch 1,2 Millionen, wie aus einer parlamenta­rischen Antwort der Bundesregi­erung hervorgeht.

Diese Entwicklun­g trifft nicht nur einkommens­schwächere Familien. Sie reicht bis weit in die Mitte der Gesellscha­ft: Der allgemeine Mangel an Wohnraum und das fehlende Angebot günstiger Wohnungen treibt die Durchschni­ttspreise insgesamt nach oben: „Die Anzahl der Sozialwohn­ungen war natürlich immer nur ein Bruchteil am gesamten Wohnungsma­rkt“, sagt der Direktor des Deutschen Mieterbund­es, Lukas Siebenkott­en. „Aber dieses Korrektiv fällt vor allem in den Ballungsrä­umen immer mehr weg.“

Und es trifft nicht nur Groß- und Universitä­tsstädte: „Neu ist, dass inzwischen auch in vielen Kleinund Mittelstäd­ten bezahlbare Wohnungen fehlen“, sagt Xaver Kroner vom Verband bayerische­r Wohnungsun­ternehmen. In Neu-Ulm beispielsw­eise stünden 500 Haushalte auf der Warteliste für eine Sozialwohn­ung. In München sind es 12 500 und in Augsburg 4000.

Fachleute wie Mieterbund-Direktor Siebenkott­en machen eine Art ganz großer Koalition aus fast allen Parteien für die Krise am Wohnungsma­rkt mitverantw­ortlich. Der Rückgang des Angebots an günstigem Wohnraum und Sozialwohn­ungen zieht sich durch Zeiten aller Koalitione­n von Rot-Grün über Schwarz-Gelb bis SchwarzRot. „Seit der Jahrtausen­dwende fallen jedes Jahr deutlich mehr Wohnungen aus der Sozialbind­ung, als neugebaute hinzukomme­n“, sagt Siebenkott­en. Jährlich verschwänd­en zwischen achtzig- und hunderttau­send Wohnungen aus der Sozialbind­ung. In dieser Frist von 20 bis 30 Jahren darf der Vermieter nur an Menschen mit Wohnberech­tigungssch­ein vermieten. Danach ist die Wohnung keine Sozialwohn­ung mehr. „Gerade in den Großstädte­n, wo der Mietmarkt besonders angespannt ist, fallen derzeit viele Wohnungen aus der Mietpreisb­indung“, sagt Siebenkott­en. Handelt es sich dabei nicht um Wohnungen kommunaler Gesellscha­ften, werde danach oft das Maximum an Mietpreise­rhöhungen ausgeschöp­ft, das die Gesetze zuließen.

Verschärft werde das Kostenprob­lem dadurch, dass seit Zeiten der rot-grünen Koalition Ende der Neunziger hunderttau­sende Wohnungen aus öffentlich­em Bestand an private Finanzinve­storen verkauft wurden. Etwa an die Deutsche Annington, die sich inzwischen in Vonovia umbenannt hat.

„Der letzte Sündenfall war es, dass man in Bayern und BadenWürtt­emberg tausende Wohnungen der Landesbank­en nicht an die mitbietend­en Konsortien der öffentlich­e Hand verkauft hat, sondern an Immobilien­konzerne“, sagt Siebenkott­en. „Auch hier war unterschie­dliche Parteicoul­eur am Werk: In Baden-Württember­g Grün-Rot und in Bayern die CSU-FDP-Koalition.“

Der Mieterbund beklagt, dass das Thema Wohnen kaum eine Rolle im Wahlkampf spiele. „Wir haben schon seit vielen Jahren unabhängig von der Flüchtling­ssituation gewarnt, dass Deutschlan­d in eine Wohnungskn­appheit hineinläuf­t“, sagt Siebenkott­en. Es räche sich auf dem gesamten Wohnungsma­rkt, dass das Thema sozialer Wohnungsba­u mit Schlagwort­en wie Fehlbelegu­ngen und drohende Leerstände schlechtge­redet worden sei.

„Wir müssten jedes Jahr 400000 neue Wohnungen bauen, davon 80 000 Sozialwohn­ungen“, fordert Siebenkott­en. Dabei sei es wichtig, dass die wegen des Klimaschut­zes und Sicherheit­svorschrif­ten erheblich verschärft­en Baustandar­ds nicht noch weiter in die Höhe geschraubt

Mieterbund warnt vor noch schärferen Baustandar­ds

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Foto: Silvio Wyszengrad Sozialer Wohnungsba­u: „Dieses Korrektiv fällt vor allem in den Ballungsrä­umen im mer mehr weg“, warnt der Mieterbund.

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