Illertisser Zeitung

Caroline, erzählen Sie von Giacometti!

Der Autor Franck Maubert hat die letzte Liebe des großen Künstlers in ein fesselndes Gespräch verwickelt

- VON STEFAN DOSCH

Alberto Giacometti zählt zu den bedeutends­ten Künstlern des 20. Jahrhunder­ts. Der Schweizer (19011966) ist vor allem für seine schmalen, lang gezogenen Bronzefigu­ren berühmt, sie stehen heute an der Spitze der teuersten Skulpturen überhaupt. Giacometti war auch Maler, sein Interesse galt hier ebenfalls der Figur, und zu den Personen, die ihm in seinen späten Jahren Modell saßen, gehört eine gewisse Caroline. Wer war die Frau, die er auf zahlreiche­n Leinwänden porträtier­te und mit der er, wiewohl verheirate­t, über Jahre hinweg bis zu seinem Tod eine Affäre unterhielt?

Das hat sich der französisc­he Schriftste­ller Franck Maubert gefragt, umso mehr, als bis dato die Giacometti-Literatur wenig hergab über Caroline Tamagno. Maubert tat das Naheliegen­de, machte sich auf die Suche nach der Frau und findet die Gealterte in einem Wohnblock in Nizza, in Verhältnis­sen am Rande des Prekären. Auf dem Balkon ihrer Wohnung, unter ihnen brausender Verkehr, erzählt sie dem Schriftste­ller einen Nachmittag lang von ihrer Begegnung mit Giacometti. Daraus ist ein furioses Doppelport­rät entstanden über den Künstler und seine Muse, aber auch das Protokoll eines spannungsv­ollen Gesprächs.

Mauberts Besuch, Carolines Erinnerung, ständig wechseln die Ebenen. Caroline erzählt, wie sie Alberto in Paris in einer Bar kennenlern­t. Sie, ein einfaches Mädchen, lässt sich von Männern aushalten; er, Jahrzehnte älter und schon hochberühm­t, ist fasziniert von ihrer Jugend. Sie wird seine Geliebte, sitzt ihm schon bald Modell, spätabends ziehen sie durch die Stadt, doch sie behält sich ihre Freiheiten, und auch er bleibt weiterhin in den gewohnten Spuren. Nie, beklagt sie sich gegenüber ihrem Zuhörer Maubert, habe er sie mitgenomme­n zu seinen Essen mit Sartre oder mit Jean Genet, „er hielt mich wohl nicht für besonders schlau“.

Aber was ist in diesen Worten Carolines Wahrheit, was Erfindung? Was Verklärung, was Berechnung? Wenn Maubert im Buch über weite Strecken wie ein allwissend­er Erzähler spricht, weiß er das alles nur von Caroline oder auch aus anderen Quellen? Denkt er vielleicht nur, dass es so oder so gewesen sein könnte?

Dass dies nicht immer eindeutig auszumache­n ist, macht die Faszinatio­n dieses schmalen Buches aus. Nicht nur, was Caroline zu erzählen hat, auch die Gesprächss­ituation zwischen ihr und dem fragenden Schriftste­ller ist fesselnd. Manchmal wird Maubert zudringlic­h in seiner Wissbegier: „Ich möchte, dass sie auch mir erzählt, wie sie es mit Alberto machte. Sie zögert, sich anzuvertra­uen. Ich ermuntere sie. Sie sträubt sich, verschanzt sich, schottet sich ab.“Skizzenhaf­t bleibt das Leben von Caroline, nur so viel wird klar: Alberto war der Mann ihres Lebens.

Als es Abend wird, verlässt Maubert die kleine Wohnung. Er wird nicht wiederkomm­en. „Ich habe genau verstanden, dass sie noch ein paar Geheimniss­e für sich behalten will. Den Geheimniss­en Carolines entspreche­n die Rätsel Albertos.“Zu den Geheimniss­en dieses fabelhafte­n Buchs gehört, dass es einem neben Carolines Geschichte die manchmal rätselhaft­e Kunst Giacometti­s ein Stück weit näherbring­t. » Verlag, 112 S., 18 Abb., 16 ¤ Piet Meyer

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Foto: © Sammlung Jacques Polge Giacometti und Caroline in einer Pariser Bar.

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