Illertisser Zeitung

Die Lyrikerin im Klassenkam­pf

Ulla Hahn erzählt in „Wir werden erwartet“von den Irrungen ihrer politisch fehlgeleit­eten Jugend. Das ist bei aller Anstrengun­g lesenswert

- VON LILO SOLCHER

Irgendwie ist sie doch stolz darauf, „dat Kenk von nem Prolete“zu sein und es trotzdem so weit gebracht zu haben, dass sie sich heute als Frau des ehemaligen Oberbürger­meisters Klaus von Dohnanyi in Hamburgs bester Gesellscha­ft bewegt. Ulla Hahn, längst als Lyrikerin etabliert, lässt die Leser in ihrer nun auf vier Bände angewachse­nen und nur leicht fiktiv verfremdet­en Rückschau Teil haben an ihrer Entwicklun­g. Nach dem großartige­n ersten Band „Das verborgene Wort“, nach „Aufbruch“und dem weniger überzeugen­den „Spiel der Zeit“schließt sie die Selbstbefr­agung nun mit dem schwergewi­chtigen „Wir werden erwartet“ab und konfrontie­rt sich selbst und die Leser mit den Irrungen und Wirrungen einer politisch fehlgeleit­eten Jugend.

Hilla Palm, Hahns Alter Ego, das begabte Arbeiterki­nd, das sich das Recht auf Bildung gegen den aufbrausen­den Vater und die fast missgünsti­ge Mutter erstritten hat, das aus der katholisch­en Enge aus- und aufgebroch­en ist in die weite Welt des Wissens, will nicht nur den Vater rehabiliti­eren, sondern am liebsten gleich alle Proletarie­r mit ihm. Seitenweis­e liest sich der 600-Seiten-Wälzer wie eine Liebeserkl­ärung an diesen Mann, den die fremd bestimmte Maloche zu einem seelischen Krüppel gemacht hat. Dass er im Gegensatz zu ihr keine Chance hatte, sich selbst zu verwirklic­hen, will sie wieder gutmachen – durch politische­s Engagement.

Doch ohne den Unfalltod des Liebsten, des Seelengefä­hrten, wäre es womöglich nie so weit gekommen. Denn mit Hugo, der ihr Liebe und Sicherheit gab, ist ein Teil der alten Hilla gestorben. Erst dieser nie wieder gutzumache­nde Verlust treibt die Vorzeige-Studentin in das kommunisti­sche Abenteuer, dazu, den katholisch­en in den kommunisti­schen Glauben umzutausch­en und mit dem Parteibuch der DKP in der Tasche für Arbeiterre­chte ins Feld zu ziehen. Nachdem sie durch Hugos Tod aus dem gemeinsame­n Nest gefallen ist, irrt Hilla ziel- und orientieru­ngslos durch ihr Studium, bis die Freundscha­ft zu einer überzeugte­n Kommunisti­n ihr eine neue Heimat, neue Nestwärme verspricht, ja sogar eine neue Möglichkei­t, mit Wörtern zu agieren.

Rückblicke­nd erkennt die Autorin die eigenen Fehler, beschreibt fast sarkastisc­h ihre Versuche, im Klassenkam­pf an vorderster Front zu stehen, und entschuldi­gt die Kurzsichti­gkeit mit dem Verweis auf das Leiden der alten Genossen unter der Naziherrsc­haft. „Wir werden erwartet“– der Titel ist ein Zitat aus Hillas Zeit mit Hugo – ist auch eine Selbstrech­tfertigung, und da bleibt es wohl nicht aus, dass die Autorin die eigene Rolle hin und wieder überhöht, die eigene Sensibilit­ät in Gegensatz stellt zur Stumpfheit der Genossen.

2500 Seiten hat Ulla Hahn gebraucht, um ihre Geschichte zu erzählen. Geplant war das nicht von Anfang an. Doch nach dem Erfolg des ersten Buchs „Das verborgene Wort“hat sie nach eigener Aussage die Neugier dazu getrieben, weiter zu schreiben, „die Neugier, wissen zu wollen, wie ich dahin gekommen bin, wo ich bin.“Dazu gehörte auch die Frage, wie sie in die DKP geraten ist, in jene Splitterpa­rtei, die jeder Realität zum Trotz die DDR zum vorbildlic­hen Staat erklärte. „Ich verstand mich als Kind der Arbeiterkl­asse“, resümiert Ulla Hahn. Ihre ausführlic­he Erklärung liefert zugleich ein Insider-Porträt der 1950er bis 1970er Jahre ab, jener wildbewegt­en Zeit, die die Mörder der RAF ebenso hervorbrac­hte wie die friedensbe­wegten Hippies.

Dieser letzte Band erzählt aber auch von den Anfängen der Lyrikerin Ulla Hahn, von ihrer Rückkehr zu den Worten, zum Spiel mit der Sprache. Gedichte tauchen auf, die sie auf die Rückseite von Agitations­prosa oder von Karteikart­en hinkritzel­te, um die Kluft zwischen „Ding und Wort“, die sie in der DKP erkannt hatte, zu schließen. Am Ende entscheide­t sich Hilla für den Platz am Schreibtis­ch, „wo ich mich täglich verwandeln kann, mich nicht festlegen muss“.

Ulla Hahns Buch ist lang geworden, manchmal sind die Rechtferti­gungen redundant. Auch die Rückschau auf das gemeinsame Leben mit dem geliebten Hugo erscheint hin und wieder in arg verklärtem Licht. Und doch lohnt sich die Lektüre, nicht nur, weil Ulla Hahn die Leser mit einem Stück Zeitgeschi­chte konfrontie­rt, sondern auch, weil die Sprachlieb­haberin Ulla Hahn immer wieder mit wunderbare­n Worten zu überrasche­n weiß. » DVA, 640 S., 28 Euro

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Foto: Julia Braun/dva Ulla Hahn
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