Prediger ohne Gesicht
Abu Walaa soll von einer Hildesheimer Moschee aus reihenweise junge Männer für die Terrormiliz Islamischer Staat angeworben haben. Der Iraker gilt als Führungsfigur in Deutschland. Im Prozess gegen ihn erfährt man Schockierendes über die Machenschaften de
Sein Wort war Gesetz. Ahmad Abdulaziz Abdullah A., alias Abu Walaa, galt als der verlängerte Arm der Terror-Miliz Islamischer Staat (IS) in Deutschland. Als „Prediger ohne Gesicht“oder „Scheich von Hildesheim“machte er von sich reden. In ihrem Namen sprach der 33-jährige Iraker Recht in der radikalislamischen Salafisten-Szene in Deutschland. Bis zu seiner Verhaftung im November 2016 zählte der Imam der DIK-Moschee in Hildesheim zu den Führungsfiguren der Hardcore-Islamisten hierzulande. Jahrelang galt er als Phantom, als schwer fassbare Spinne im Netz der radikalislamischen Szene in Deutschland.
Der Sheikh – der geistige Führer –, wie ihn seine Anhänger ehrfürchtig nannten, soll der Kopf eines Netzwerks sein, das junge Muslime in geheimen Koranschulen im Ruhrpott radikalisierte und zum IS schleuste. Als der Hassprediger im Herbst 2016 in einer Videobotschaft unterschwellig zur Tötung eines Verräters aufrief, erntete er offenen Zuspruch: Seinerzeit hatte Abu Walaa einen Polizeispitzel in den eigenen Reihen enttarnt. Der V-Mann trug den Decknamen Murat. Der Mordaufruf verfing: Ein Salafist bot 200 Euro für jeden Stich gegen den Abtrünnigen, andere riefen dazu auf, einen Mietkiller anzuheuern.
So zumindest steht es in der Anklage der Bundesanwaltschaft und in den Ermittlungsakten. Der Mordaufruf wird in dem mit Spannung erwarteten Terror-Prozess gegen den Sheikh und vier seiner Getreuen, der gestern am Oberlandesgericht (OLG) in Celle vor dem Staatsschutzsenat begann, eine große Rolle spielen. Schwerbewaffnete Spezialkräfte der Polizei sowie Beamte mit Maschinenpistolen sichern das Gerichtsgebäude, verhandelt wird im Hochsicherheitstrakt und die Angeklagten sitzen hinter Panzerglas. Und dies nicht grundlos: Laut Gericht gibt es Anschlagsdrohungen ebenso wie den Aufruf im Internet zur Befreiung eines Angeklagten.
Nach Ansicht der Ankläger fungierte Abu Walaa als Nummer eins des IS in Deutschland. Der WebImam, der auf Youtube stets mit dem Rücken zur Kamera auftrat, verfügte demnach über Kontakte zum Geheimdienst und zur Spitze des IS. Ohne seinen Bayan, seine Zustimmung, durften seine Getreuen nicht in den Dschihad ziehen – sei es in Deutschland oder in Syrien.
Der Fall Abu Walaa sorgt für immenses Aufsehen: Denn zu seinem Netzwerk zählte auch der Attentäter Anis Amri, der im Dezember 2016 mit einem Lkw in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz raste und zwölf Menschen tötete. Der Tunesier Amri besuchte wohl häufig die extremistischen Koranseminare.
Die Gruppe um den Sheikh war hierarchisch gegliedert. Seine Gebietsleiter Boban S. und Hasan C. radikalisierten laut Anklage junge Muslime in geheimen Koranschulen in Duisburg und Dortmund. Die beiden anderen Angeschuldigten besorgten falsche Pässe, die nötigen Geldmittel und organisierten die Schleusung zu den Kalifatskriegern.
Im Prozess gegen das TerrorNetzwerk stützen sich die Staatsschützer im Wesentlichen auf drei Punkte: Da wäre der Kronzeuge Anil O. In tagelangen Verhören berichtete der IS-Rückkehrer, dass Abu Walaa im Namen der IS-Garden Rechtsgutachten, sogenannte Fatwa, erstellt habe. Auch soll der Geistliche potenziellen IS-Rekruten seinen Segen zur Ausreise gegeben und sie logistisch als auch finanziell unterstützt haben. Dasselbe soll für geplante Anschläge in Deutschland gegolten haben. Im Auftrag von Abu Walaa sollen seine Helfer Einbrüche oder Betrügereien begangen haben, um die Moscheegemeinde und das IS-Netzwerk zu finanzieren. Allein zwei Millionen Euro aus Spenden und kriminellen Aktivitäten will die Radikalen-Zelle an die Terror-Garden geschleust haben.
Peter Krieger, Verteidiger von Abu Walaa, hält den Kronzeugen für wenig glaubwürdig. „Es ist doch komisch, dass ein IS-Terrorist in seinem eigenen Prozess nur zwei Jahre auf Bewährung erhält, normalerweise liegen die Straftarife in solchen Fällen deutlich höher“, erläutert der Jurist. „Mit seinen Lügen über meinen Mandanten hat er sich erst das milde Urteil erschlichen“, glaubt Krieger.
Ebenso kritisch sehen die Anwälte der Angeklagten die Rolle der Polizeiinformanten in dem Verfahren. So erwies sich Murat, der V-Mann des Landeskriminalamts (LKA) Nordrhein-Westfalen, als wahre Goldgrube. Die Quelle hatte die Gruppierung um Abu Walaa über ● Die Zahl der Salafisten in Deutschland steigt. Die Sicherheits behörden rechnen inzwischen 10 300 Menschen zu dieser Szene. 2011 hatte der Inlandsgeheimdienst noch 3800 Salafisten in Deutschland ge zählt, Ende 2015 waren es bereits rund 8300. Im Juni 2017 hatte die Zahl die Grenze von 10 000 überschritten. Die Sicherheitsbehörden sehen die Entwicklung seit langem mit Sorge. Sie halten den Salafismus – eine beson ders konservative Ausprägung des Islam ein Jahr lang ausspioniert. Beinahe wöchentlich lieferte er Berichte aus dem inneren Zirkel der Terrorhelfer. Der geheimnisumwitterte Polizei-Informant wird im Terror-Prozess nicht auftreten. Nach Informationen unserer Zeitung haben die Sicherheitsbehörden einen Sperrvermerk an den Celler OLG-Senat gesandt. Anstatt seiner wird der V-Mann-Führer aus dem LKA vernommen. Michael Murat Sertsöz, Verteidiger des Mitangeklagten Boban S., sieht diesen Vorgang kritisch: „In dem Fall wimmelt es nur so von Polizeispitzeln.“Seiner Meinung nach hat es nie ein TerrorNetzwerk gegeben. „Die Maschen dieses angeblichen Netzwerks bilden einzig die falschen Aussagen der V-Leute der Polizei.“
V-Mann Murat hat seinen Mandanten schwer belastet. Boban S. und Hasan C., den sie den Lehrer, den Hoca, nannten, warben junge Muslime in ihren Radikalenseminaren an. Das Beuteschema des Terror-Netzwerks für neue Rekruten klang denkbar simpel: je jünger, desto besser. „Die Jungen sind Gold wert“, tönte der Hoca, „sie lassen sich besser formen.“Formen zum „Gotteskrieger“.
Yusuf T., ein heute 17-jähriger Muslim, erhielt seine Gehirnwäsche im Hinterzimmer eines Reisebüros in Duisburg. Hasan C. folgte dort einem eigenen Curriculum: dem Handbuch des Dschihad. Meist trafen sich sieben bis zehn Schüler bei dem Extremisten. Der Jüngste war gerade einmal 14 Jahre alt. Wer am Unterricht teilnehmen wollte, brauchte zwei Bürgen. Stundenlang rezitierte der nun mitangeklagte Lehrer stets dieselben Passagen: Warum man die Ungläubigen meiden solle, warum man sie überall bekämpfen müsse. Sein Dogma war simpel: Wer nicht nach Syrien gehen wollte, solle zumindest in Deutschland Anschläge verüben. Immer wieder spielte der Lehrer Gräuelvideos des IS ab. Und gab zum Schluss die Parole aus: „Tötet die Ungläubigen!“
Yusuf T. hörte interessiert zu. Als er so weit war, reiste er mit seinen Großeltern zum Sheikh nach Hildesheim. Abu Walaa soll ihm den letzten Schliff verliehen haben. Am 16. April 2016 verübte der Teenager mit zwei Komplizen einen Bombenanschlag auf einen Sikh-Tempel in Essen. Drei Menschen wurden dabei verletzt. Nach dem Attentat bejubelte die Clique um den Hildesheimer Imam Abu Walaa die Nachricht vom Sprengstoffattentat. In einem geheimen Chat mit Schülern des Netzwerks rief ein IS-Kämpfer die Brüder zu Hause dazu auf, den Tempelanschlag als Anlass zu nehmen, erneut zuzuschlagen. Er nannte auch eine Adresse: die jüdische Synagoge in Essen.
Der Anklage zufolge soll das Terror-Netzwerk insgesamt acht Freiwillige angeworben und in das Kriegsgebiet geschleust haben. Weitere elf deutsche IS-Kämpfer standen vor ihrer Ausreise in engem Kontakt mit den angeklagten Gefolgsleuten des Sheikh Abu Walaa. Sechs von ihnen starben den Erkenntnissen zufolge im Kampfgebiet.
Als wichtiges Beweismittel nutzt die Bundesanwaltschaft nach Informationen unserer Zeitung die Bürokratie der wankenden Kalifats-Brigaden. Vergangenes Jahr fielen dem Bundeskriminalamt Registrierungsbögen der sogenannten „Generaldirektion der Grenzverwaltung“des IS in die Hände. Diese Unterlagen liefern auch die Namen deutscher IS-Kämpfer. Alle Neuankömmlinge in Syrien mussten offenbar ein 23 Fragen umfassendes Einreiseformular ausfüllen. Ein Deserteur soll die Datensätze gestohlen und anschließend an europäische Sicherheitsbehörden und auch Journalisten weitergegeben haben. Für die Bundesanwaltschaft stellen die IS-Mitgliederlisten ein Geschenk dar. Zumal die Papiere auch die Namen der Schleuser des deutschen TerrorNetzwerks dokumentieren.
In dem Konvolut tauchen etwa die Zwillingsbrüder Mark und Kevin K., 25, auf. Der eine stand kurz vor seinem Jura-Examen, der andere hatte gerade einen AfghanistanEinsatz als Bundeswehrsoldat hinter sich gebracht, als die Geschwister aus Castrop-Rauxel vermutlich Ende 2013/Anfang 2014 unter Einfluss eines Gefolgsmannes von Abu Walaa gerieten. Es handelte sich um Boban S., einen Fundamentalisten mit bosnischen Wurzeln, der die Dschihad-Ideologie des IS seinen Schülern in einer Wohnung in Dortmund eintrichterte. Im Sommer 2014 überschritten die Gebrüder K. die Grenze nach Syrien. Beide sprengten sich bei Angriffen auf irakische Stützpunkte als Selbstmordattentäter in die Luft. Ihr Mentor feierte seine Schüler nach ihrem Tod in Chats als Märtyrer.
Die Zahl der Salafisten in Deutschland steigt