Im Wirtshaus gehen die Lichter aus
Immer mehr Gasthäuser im Freistaat schließen. Und mit ihnen verschwindet ein Stück bayerische Gemütlichkeit. Wie dramatisch der Rückgang ist und was die Gründe dafür sind
Irgendwann kamen die Kartler nicht mehr. Die Schafkopfrunde und der SechsundsechzigKlub. Und beim Frühschoppen, sonntags ab neun, saßen manchmal nur noch zwei ältere Herren am Tisch. Es wurde still im Gasthaus „Deutsches Haus“. Und am Silvesterabend 2016 gingen dann die Lichter in der Gaststube für immer aus. Das Wirtshaus in Zöschlingsweiler, einem kleinen Örtchen im Landkreis Dillingen, war Geschichte.
40 Jahre lang war das „Deutsche Haus“das Leben von Helene Steidle. Sie stand in der Küche, panierte Schnitzel, servierte deftigen Schweinsbraten und trug Halbe für Halbe Bier an die Tische, an denen gelacht und geschimpft, Dorftratsch erzählt, über Politik diskutiert und bayerische Gemütlichkeit zelebriert wurde. „Aber irgendwann hat es sich einfach nicht mehr rentiert“, sagt Helene Steidle heute.
Das Schicksal des Gasthauses in Zöschlingsweiler ist beileibe kein Einzelfall. In ganz Bayern, wo man stolz auf seine zünftigen Traditionen und urigen Bierstuben ist, geht die Zahl der klassischen Wirtschaften seit Jahren zurück. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes sank die Zahl der Wirtshäuser in Bayern zwischen 1980 und 2011 von rund 7900 auf unter 4400. Das ist ein Rückgang von 44 Prozent. Der bayerische Hotelund Gaststättenverband gab 2011 bekannt, dass etwa 500 Gemeinden im Freistaat kein Wirtshaus mehr haben – also etwa ein Viertel aller Ortschaften.
„Wo die Wirtschaft stirbt, stirbt der Ort“, heißt es in einer Studie der Katholischen Universität EichstättIngolstadt, die sich 2013 mit dem Wirtshausschwund befasst hat. Welche Auswirkungen das Verschwinden der Wirtshäuser für die Dörfer im Freistaat haben kann, damit hat sich Frank-Ulrich John, Sprecher des Bayerischen Hotelund Gaststättenverbandes, beschäftigt. Er zeichnet ein düsteres Bild: Wenn die Wirtschaft schließt, be- komme als Nächstes der Metzger ein Problem, weil ihm niemand mehr die großen Fleischmengen und die bei Privathaushalten doch eher unbeliebten Teile wie Knochen und Schweinsköpfe abnehme. „Als Nächstes trifft es dann die Brauerei. Und so geht es weiter“, sagt John.
Vor allem für junge Leute haben die klassischen Landgasthäuser ihre Anziehungskraft verloren: „Wir sind ein kleines Dorf, die Jugend zieht es am Abend in die Stadt oder in die Disco. Und die Älteren, die immer zu uns gekommen sind, sind weggestorben“, sagt Helene Steidle. Vieles hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Damals, als sie mit 25 Jahren in die Wirtsfamilie einheiratete, war die Welt noch eine andere. Es gab immer ein Tagesessen, die Lastwagenfahrer machten im „Deutschen Haus“Brotzeit, die Arbeiter aus der nahen Spinnerei kamen zum Mittagstisch. Und an Festtagen, etwa zu Weihnachten, servierten die Wirtsleute ihren Gästen dreigängige Menüs, mit Entenbrust oder Lachsfilet.
Viele Jahre betrieb die Familie außerdem noch eine Metzgerei – vor etwa zehn Jahren aber gaben die Steidles sie auf. „Die Leute haben ihr Fleisch immer öfter im Supermarkt gekauft, weil es dort ein Zehnerle weniger gekostet hat“, sagt Helene Steidle. Und als ohnehin kein Nachfolger gefunden wurde, weil der Sohn kein Metzger werden wollte, wurde die Fleischtheke geschlossen. Die Tochter half noch in der Wirtschaft der Eltern, doch dann zog sie weg, wurde Mutter und hatte keine Zeit mehr.
Gründe, warum so viele Wirtshäuser in Bayern und ganz Deutschland schließen, gibt es – neben sinkenden Gästezahlen – viele. Oft findet sich kein Nachfolger, der die Eltern am Zapfhahn oder in der Küche ablösen will, wenn sie in den Ruhestand gehen. Vor allem die langen Arbeitszeiten, die in der Gastronomie an der Tagesordnung sind, wirken auf die junge Generation nicht gerade verlockend. „Die Kinder sagen: Ihr steht 365 Tage im Jahr in der Gaststube. Das mache ich nicht“, meint John vom Bayerischen Hotel- und Gaststättenverband. Auch außerhalb der Familie findet sich oft niemand, der das Gasthaus übernehmen möchte.
Und vor noch einem Problem stehen viele Wirte: dem aus ihrer Sicht immer dichter werdenden bürokratischen Dschungel – dazu zählen die Kennzeichnung von Allergenen, die Mindestlohn-Dokumentationspflichten oder die Brandschutz- und Lebensmittelvorschriften. Auch die Vorgaben im Arbeitszeitgesetz stellen viele Wirte vor Herausforderungen, wenn sie nicht genügend Personal haben. So gaben fast 55 Prozent der befragten Wirte in einer aktuellen Studie des Deutschen Hotelund Gaststättenverbandes an, ihre Öffnungszeiten in den vergangenen zwei Jahren eingeschränkt zu haben. Rund 50 Prozent gaben außerdem an, ihr Leistungsangebot – etwa das Angebot eines Mittagstisches oder die Veranstaltung von Familienfeiern – reduziert zu haben.
Für Helene Steidle aus Zöschlingsweiler war der Silvesterabend 2016 ein sehr bewegender Moment. Denn sie schloss damals nicht nur die Gaststube des „Deutschen Hauses“, sie schloss auch ein großes Kapitel ihres Lebens ab. Es sei schon emotional gewesen. „Aber im Nachhinein war es die richtige Entscheidung. Man wird ja auch älter“, resümiert sie. Und jetzt hat sie etwas, was sie 40 Jahre lang nicht kannte: freie Wochenenden.
Für jemanden, der in einer großen Stadt wohnt, in der man am Abend ohne Tischreservierung sich gar nicht die Mühe machen muss, vom Sofa aufzustehen, ist das Problem Wirtshaussterben wahrscheinlich wenig greifbar. Die unzähligen Sushi-Bars, Pizzerien, Steakhäuser und indischen Restaurants sind immer gut besucht. Ganz anders aber sieht es oft auf dem Land aus. Dort, wo immer mehr klassische Wirtshäuser dicht machen.
Die Statistiker sprechen von einem Rückgang von 44 Prozent zwischen 1980 und 2011. Das ist dramatisch. Natürlich zu allererst für die Wirte, denen die Lebensgrundlage wegbricht. Tragisch ist das Wirtshaussterben aber auch aus kultureller Sicht. Denn die Wirtschaften sind ein Stück bayerische Tradition. Sie haben jahrzehntelang das Sozialleben in den Dörfern beeinflusst, waren Treffpunkte zum Essen, Ratschen, Streiten. Und weil es in vielen kleinen Dörfern auch oft keine Supermärkte, Bäcker oder Metzgereien mehr gibt, wo sich die Bewohner treffen könnten, verlieren immer mehr Gemeinden im Freistaat ein Stück Lebensqualität.
Viele Wirtshäuser haben es allerdings auch versäumt, zu investieren, zu modernisieren, sich ein Stück weit neu zu erfinden, ohne die eigenen Traditionen zu verleugnen. Gerade weil viele Menschen wieder mehr Wert auf Regionalität legen, hätten viele Landgasthöfe die besten Voraussetzungen, diesen Trend für sich zu nutzen und dabei die Speisekarte und das Interieur ein bisschen zu entstauben, um auch junge Leute anzuziehen. Das muss man sich natürlich erst einmal leisten können. Und Sinn macht so eine teure Zukunftsinvestition auch nur dann, wenn sich ein Nachfolger findet, der das Wirtshaus weiterführen möchte. Oft ist das leider anders. Und das Heimatgefühl verschwindet immer mehr.