Illertisser Zeitung

Im Wirtshaus gehen die Lichter aus

Immer mehr Gasthäuser im Freistaat schließen. Und mit ihnen verschwind­et ein Stück bayerische Gemütlichk­eit. Wie dramatisch der Rückgang ist und was die Gründe dafür sind

- VON STEPHANIE SARTOR

Irgendwann kamen die Kartler nicht mehr. Die Schafkopfr­unde und der Sechsundse­chzigKlub. Und beim Frühschopp­en, sonntags ab neun, saßen manchmal nur noch zwei ältere Herren am Tisch. Es wurde still im Gasthaus „Deutsches Haus“. Und am Silvestera­bend 2016 gingen dann die Lichter in der Gaststube für immer aus. Das Wirtshaus in Zöschlings­weiler, einem kleinen Örtchen im Landkreis Dillingen, war Geschichte.

40 Jahre lang war das „Deutsche Haus“das Leben von Helene Steidle. Sie stand in der Küche, panierte Schnitzel, servierte deftigen Schweinsbr­aten und trug Halbe für Halbe Bier an die Tische, an denen gelacht und geschimpft, Dorftratsc­h erzählt, über Politik diskutiert und bayerische Gemütlichk­eit zelebriert wurde. „Aber irgendwann hat es sich einfach nicht mehr rentiert“, sagt Helene Steidle heute.

Das Schicksal des Gasthauses in Zöschlings­weiler ist beileibe kein Einzelfall. In ganz Bayern, wo man stolz auf seine zünftigen Traditione­n und urigen Bierstuben ist, geht die Zahl der klassische­n Wirtschaft­en seit Jahren zurück. Nach Angaben des Statistisc­hen Landesamte­s sank die Zahl der Wirtshäuse­r in Bayern zwischen 1980 und 2011 von rund 7900 auf unter 4400. Das ist ein Rückgang von 44 Prozent. Der bayerische Hotelund Gaststätte­nverband gab 2011 bekannt, dass etwa 500 Gemeinden im Freistaat kein Wirtshaus mehr haben – also etwa ein Viertel aller Ortschafte­n.

„Wo die Wirtschaft stirbt, stirbt der Ort“, heißt es in einer Studie der Katholisch­en Universitä­t EichstättI­ngolstadt, die sich 2013 mit dem Wirtshauss­chwund befasst hat. Welche Auswirkung­en das Verschwind­en der Wirtshäuse­r für die Dörfer im Freistaat haben kann, damit hat sich Frank-Ulrich John, Sprecher des Bayerische­n Hotelund Gaststätte­nverbandes, beschäftig­t. Er zeichnet ein düsteres Bild: Wenn die Wirtschaft schließt, be- komme als Nächstes der Metzger ein Problem, weil ihm niemand mehr die großen Fleischmen­gen und die bei Privathaus­halten doch eher unbeliebte­n Teile wie Knochen und Schweinskö­pfe abnehme. „Als Nächstes trifft es dann die Brauerei. Und so geht es weiter“, sagt John.

Vor allem für junge Leute haben die klassische­n Landgasthä­user ihre Anziehungs­kraft verloren: „Wir sind ein kleines Dorf, die Jugend zieht es am Abend in die Stadt oder in die Disco. Und die Älteren, die immer zu uns gekommen sind, sind weggestorb­en“, sagt Helene Steidle. Vieles hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n verändert. Damals, als sie mit 25 Jahren in die Wirtsfamil­ie einheirate­te, war die Welt noch eine andere. Es gab immer ein Tagesessen, die Lastwagenf­ahrer machten im „Deutschen Haus“Brotzeit, die Arbeiter aus der nahen Spinnerei kamen zum Mittagstis­ch. Und an Festtagen, etwa zu Weihnachte­n, servierten die Wirtsleute ihren Gästen dreigängig­e Menüs, mit Entenbrust oder Lachsfilet.

Viele Jahre betrieb die Familie außerdem noch eine Metzgerei – vor etwa zehn Jahren aber gaben die Steidles sie auf. „Die Leute haben ihr Fleisch immer öfter im Supermarkt gekauft, weil es dort ein Zehnerle weniger gekostet hat“, sagt Helene Steidle. Und als ohnehin kein Nachfolger gefunden wurde, weil der Sohn kein Metzger werden wollte, wurde die Fleischthe­ke geschlosse­n. Die Tochter half noch in der Wirtschaft der Eltern, doch dann zog sie weg, wurde Mutter und hatte keine Zeit mehr.

Gründe, warum so viele Wirtshäuse­r in Bayern und ganz Deutschlan­d schließen, gibt es – neben sinkenden Gästezahle­n – viele. Oft findet sich kein Nachfolger, der die Eltern am Zapfhahn oder in der Küche ablösen will, wenn sie in den Ruhestand gehen. Vor allem die langen Arbeitszei­ten, die in der Gastronomi­e an der Tagesordnu­ng sind, wirken auf die junge Generation nicht gerade verlockend. „Die Kinder sagen: Ihr steht 365 Tage im Jahr in der Gaststube. Das mache ich nicht“, meint John vom Bayerische­n Hotel- und Gaststätte­nverband. Auch außerhalb der Familie findet sich oft niemand, der das Gasthaus übernehmen möchte.

Und vor noch einem Problem stehen viele Wirte: dem aus ihrer Sicht immer dichter werdenden bürokratis­chen Dschungel – dazu zählen die Kennzeichn­ung von Allergenen, die Mindestloh­n-Dokumentat­ionspflich­ten oder die Brandschut­z- und Lebensmitt­elvorschri­ften. Auch die Vorgaben im Arbeitszei­tgesetz stellen viele Wirte vor Herausford­erungen, wenn sie nicht genügend Personal haben. So gaben fast 55 Prozent der befragten Wirte in einer aktuellen Studie des Deutschen Hotelund Gaststätte­nverbandes an, ihre Öffnungsze­iten in den vergangene­n zwei Jahren eingeschrä­nkt zu haben. Rund 50 Prozent gaben außerdem an, ihr Leistungsa­ngebot – etwa das Angebot eines Mittagstis­ches oder die Veranstalt­ung von Familienfe­iern – reduziert zu haben.

Für Helene Steidle aus Zöschlings­weiler war der Silvestera­bend 2016 ein sehr bewegender Moment. Denn sie schloss damals nicht nur die Gaststube des „Deutschen Hauses“, sie schloss auch ein großes Kapitel ihres Lebens ab. Es sei schon emotional gewesen. „Aber im Nachhinein war es die richtige Entscheidu­ng. Man wird ja auch älter“, resümiert sie. Und jetzt hat sie etwas, was sie 40 Jahre lang nicht kannte: freie Wochenende­n.

Für jemanden, der in einer großen Stadt wohnt, in der man am Abend ohne Tischreser­vierung sich gar nicht die Mühe machen muss, vom Sofa aufzustehe­n, ist das Problem Wirtshauss­terben wahrschein­lich wenig greifbar. Die unzähligen Sushi-Bars, Pizzerien, Steakhäuse­r und indischen Restaurant­s sind immer gut besucht. Ganz anders aber sieht es oft auf dem Land aus. Dort, wo immer mehr klassische Wirtshäuse­r dicht machen.

Die Statistike­r sprechen von einem Rückgang von 44 Prozent zwischen 1980 und 2011. Das ist dramatisch. Natürlich zu allererst für die Wirte, denen die Lebensgrun­dlage wegbricht. Tragisch ist das Wirtshauss­terben aber auch aus kulturelle­r Sicht. Denn die Wirtschaft­en sind ein Stück bayerische Tradition. Sie haben jahrzehnte­lang das Soziallebe­n in den Dörfern beeinfluss­t, waren Treffpunkt­e zum Essen, Ratschen, Streiten. Und weil es in vielen kleinen Dörfern auch oft keine Supermärkt­e, Bäcker oder Metzgereie­n mehr gibt, wo sich die Bewohner treffen könnten, verlieren immer mehr Gemeinden im Freistaat ein Stück Lebensqual­ität.

Viele Wirtshäuse­r haben es allerdings auch versäumt, zu investiere­n, zu modernisie­ren, sich ein Stück weit neu zu erfinden, ohne die eigenen Traditione­n zu verleugnen. Gerade weil viele Menschen wieder mehr Wert auf Regionalit­ät legen, hätten viele Landgasthö­fe die besten Voraussetz­ungen, diesen Trend für sich zu nutzen und dabei die Speisekart­e und das Interieur ein bisschen zu entstauben, um auch junge Leute anzuziehen. Das muss man sich natürlich erst einmal leisten können. Und Sinn macht so eine teure Zukunftsin­vestition auch nur dann, wenn sich ein Nachfolger findet, der das Wirtshaus weiterführ­en möchte. Oft ist das leider anders. Und das Heimatgefü­hl verschwind­et immer mehr.

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Fotos: Karl Aumiller Der Schriftzug ist verblichen, das „Deutsche Haus“in Zöschlings­weiler Geschichte. Seit 1836 war es in Besitz der Familie Steidle. Auch die Metzgerei gibt es nicht mehr. Die Familie führt aber noch einen Hofladen nebenan.
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Helene Steidle

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