Illertisser Zeitung

„Wir bilden die Realität ab, und die ist grausam“

„Aktenzeich­en XY…ungelöst“ist ein Stück Fernsehges­chichte. Seit 50 Jahren hilft das ZDF der Polizei bei der Fahndung nach Schwerverb­rechern. Wie sich Moderator Rudi Cerne den Erfolg der Sendung erklärt

- Wie erlebten Sie Zimmermann? Interview: Daniel Wirsching

Herr Cerne, bekamen Sie auch Angst als Kind, wenn Sie die Einspielfi­lme bei „Aktenzeich­en XY“sahen?

Als die Sendung erstmals lief, war ich neun Jahre alt und durfte sie nicht sehen. Sie war aber großes Thema an unserer Schule.

Diese Filme mit Laiendarst­ellern, in denen ein Tatgescheh­en nachgestel­lt wurde, wirkten auf Kinder sehr real ...

... Ja, und ich habe anfangs, als ich sie dann sehen durfte, den Unterschie­d zwischen Fiktion und Realität gar nicht so wirklich wahrgenomm­en. Ich war auch irritiert, dass der Täter eigentlich immer zu sehen war.

Fast schon beruhigend in ihrer Korrekthei­t muteten dagegen die Moderatore­n Eduard Zimmermann sowie Peter Nidetzky aus Wien und Konrad Toenz aus Zürich auf Zuschauer an.

Diese Mischung erklärt sicher einen Teil des Erfolgs von „Aktenzeich­en XY“. Die Moderatore­n waren ja Moderatore­n im klassische­n Sinne – also Vermittler. Gerade Eduard Zimmermann hat diese Rolle perfekt ausgefüllt. Auf der einen Seite der Abgrund, die Grausamkei­t – auf der anderen Seite der Moderator, der in gewisser Weise eine beruhigend­e Funktion hat.

Für mich war er als Moderator eine Legende. Doch erst als ich ihn kennenlern­te, ist mir bewusst geworden, was er da ins Leben gerufen hatte: „Aktenzeich­en XY…ungelöst“ist eine Säule der Fernsehlan­dschaft, nach wie vor. Ich erinnere mich gut an seine ersten Worte in der Sendung: „Den Bildschirm zur Verbrechen­sbekämpfun­g einzusetze­n, das ist der Sinn dieser Sendung.“Im Prinzip ist „XY“Vorläufer des interaktiv­en Fernsehens.

Sie übernahmen die Sendung im Jahr 2002, Zimmermann starb 2009. Was war Ihr erster Eindruck von ihm?

Ich bin ihm das erste Mal in Zürich am Bahnhof begegnet. Er hatte mich gefragt, ob ich die Sendung moderieren wolle, und nun ● wurde 1958 in Wanne Eickel im Ruhrgebiet geboren. Vor seiner Fernsehkar­riere war er erfolgrei cher Eiskunstlä­ufer. Unter anderem gewann er bei den Eiskunstla­uf Europa meistersch­aften 1984 eine Silberme daille. 1988 wurde er dann freier Mitar beiter in der Sportredak­tion des WDR in Köln, von 1990 an ARD Live Repor ter für Eiskunstla­ufen. Später mode rierte er zudem die ARD „Sportschau“. 1996 wechselte er zum ZDF, wo er 1999 Moderator des „aktuellen sport studios“wurde. ● wurde am 20. Ok wollten wir Einzelheit­en besprechen. Er war eine imposante Figur und erschien mir größer, als ich ihn vom Fernsehen her in Erinnerung hatte. Mit seinem hellen Trenchcoat und seiner lässigen Art hat er mich sehr beeindruck­t.

Hat er Ihnen einen Rat gegeben?

Er sagte, ich solle so bleiben, wie ich bin. „Wir wollen Sie deshalb engagieren, weil Sie so eine leichte Art haben mit schweren Themen umzugehen“, meinte er. Und: „Versuchen Sie nicht, mich zu kopieren.“

Wie erklären Sie sich, dass noch immer Millionen „XY“sehen? Dabei sind das TV-Programm und das Internet doch voller fiktiver und echter Gewalt.

„Aktenzeich­en XY“ist wie eine Konstante im deutschen Fernsehen; Zuschauer wissen, was auf sie zukommt. Das heißt nicht, dass wir nichts verändern würden. Aber wir achten sehr darauf, den Kern der tober 1967 erstmals gesendet, aus Halle 1A des ZDF Studio Wiesbaden. ● hatte die Idee zu dem Format, das später weltweit nachgeahmt wurde, und moderierte es auch. Bereits ab 1964 präsentier­te der Münchner die ebenfalls von ihm ins Leben gerufene ZDF Reihe „Vorsicht Falle! – Nepper, Schlepper, Bauernfän ger“. 1976 war er Mitgründer des Opferhilfe­vereins „Weißer Ring“. ● Am 7. Juni 1968 wird zum ersten Mal ein Mord mit Zu schauerhil­fe aufgeklärt. Schon am 24. Januar 1969 wird „Aktenzeich­en XY“ Sendung beizubehal­ten. Wir bilden die Realität ab, und die ist grausam. Zugleich besteht Grund zur Hoffnung: Wir haben eine Aufklärung­squote von 40 Prozent.

Wie hat sich im Laufe der Jahre das Verbrechen geändert?

Die Gewaltbere­itschaft ist höher und das Verbrechen ist jünger geworden. Die Täter sind also jünger, und Gewalt wird schon angewendet, wenn es um kleine Geldbeträg­e geht.

Hat sich das auf die Auswahl der Fälle ausgewirkt, die Sie vorstellen?

Wir zeigen ja auf Bitten der Polizei die Fälle, die besonders schwere Verbrechen sind. Mord, Totschlag, bewaffnete­r Raubüberfa­ll, Entführung, Vergewalti­gung.

Haben Sie Einfluss darauf, welche Fälle in die Sendung kommen?

Ich bin nicht derjenige, der erstmals als Eurovision­ssendung ausge strahlt – als Kooperatio­n von deut schem, österreich­ischem und Schweizer Fernsehen. Ab 12. September 1969 kommt sie aus dem TV Studio München in Unterföhri­ng. Am 24. Oktober 1997 moderiert Zimmermann die 300. Folge – und verabschie­det sich. Am 18. Januar 2002 übernimmt Rudi Cerne die Moderation von Butz Peters. ● Das ZDF zeigt zum Jubiläum mehrere Sendungen – am Mittwoch, 4. Oktober, um 20.15 Uhr etwa die Live Sendung „Aktenzeich­en XY Spezial: Vorsicht, Betrug!“. (wida) sagt, den Fall nehmen wir, und den Fall nehmen wir nicht. Ich habe eine aufmerksam­e und gut arbeitende Redaktion. Dennoch mache ich Vorschläge. Zum Beispiel beim „Holzklotz-Mord“vor einigen Jahren in Norddeutsc­hland: Da hat ein Mann einen Holzklotz von einer Autobahnbr­ücke geworfen. Dadurch wurde eine Frau getötet, die auf dem Beifahrers­itz eines Autos saß. Das habe ich in den Nachrichte­n mitbekomme­n, als ich an einer AutobahnRa­ststätte stand. Ich rief dann in der Redaktion an und sagte: „Wir sollten hier bei der Fahndung helfen.“So etwas ist die klassische Situation, in der sich eine Fahndung via TV anbietet. Die Antwort war: „Rudi, das haben wir schon in der Sendung.“Der Holzklotz-Werfer hat sich später der Polizei gestellt.

Eduard Zimmermann war überzeugt davon, dass das Fernsehen besonders dazu geeignet ist, nach Verbrecher­n zu fahnden. Ist es das auch noch im Internetze­italter?

Unbedingt. Das Fernsehen ist noch lange nicht tot. Kürzlich gab es eine Umfrage, der zufolge Fernsehen immer noch die liebste Freizeitbe­schäftigun­g der Deutschen ist. Millionen Menschen sehen bei uns einen Fahndungsa­ufruf.

Wo hat „Aktenzeich­en XY“seine Grenzen?

Wir zeigen auf keinen Fall besonders brutale Szenen, auch mit Rücksicht auf die Angehörige­n. Wir dürfen die Grenze des Zumutbaren nicht überschrei­ten.

Der Deutsche Presserat missbillig­te Mitte September die Berichters­tattung der Bild-Zeitung. Die hatte im Juli unverpixel­te Fotos von „G20-Verbrecher­n“gezeigt und ihre Leser zur Fahndung nach diesen aufgerufen. Es gehöre nicht zur Aufgabe der Presse, erklärte der Presserat, „selbststän­dig nach Bürgern zu fahnden, ohne dass ein offizielle­s Fahndungse­rsuchen seitens der Staatsanwa­ltschaft vorliegt“.

Wir haben damals beim Landeskrim­inalamt Hamburg nachgefrag­t, ob die Behörden wegen der Ausschreit­ungen während des G20-Gipfels in Hamburg die Hilfe der Öffentlich­keitsfahnd­ung benötigen. Die Erklärung war, dass zunächst in Bezug auf die Bilder abgeklärt werden muss, welcher Tatverdach­t bei einzelnen Personen überhaupt besteht. Wir leben in einem Rechtsstaa­t und wir bei „Aktenzeich­en XY“können nicht selbststän­dig Fahndungsf­otos zeigen.

Sie befassen sich intensiv mit dem Thema Verbrechen. Wirkt sich das auf Ihr Privatlebe­n aus?

Es gibt einen kostenfrei­en Service der Polizei. Da kommt jemand zu Ihnen in die Wohnung oder ins Haus und berät Sie hinsichtli­ch der Sicherheit­svorkehrun­gen. Den habe ich genutzt. Ansonsten hat sich mein Leben nicht verändert. Ich bin kein ängstliche­r Mensch – aber ein vorsichtig­er. Meine Vorsicht hat sich durch „Aktenzeich­en XY“bestätigt.

50 Jahre „Aktenzeich­en XY… ungelöst“: Der ZDF Dauerbrenn­er im Rückblick

 ?? Fotos: Nadine Rupp/Renate Schäfer, ZDF ?? Rudi Cerne präsentier­t seit 15 Jahren „Aktenzeich­en XY… ungelöst“. Die Sendung hatte einst Eduard Zimmermann ins Leben ge rufen – und damit einen Dauerbrenn­er geschaffen.
Fotos: Nadine Rupp/Renate Schäfer, ZDF Rudi Cerne präsentier­t seit 15 Jahren „Aktenzeich­en XY… ungelöst“. Die Sendung hatte einst Eduard Zimmermann ins Leben ge rufen – und damit einen Dauerbrenn­er geschaffen.

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