Illertisser Zeitung

Bricht heute Abend Spanien auseinande­r?

Es könnte der Tag der Entscheidu­ng werden: Katalonien­s Ministerpr­äsident Carles Puigdemont will im Parlament von Barcelona die Unabhängig­keit seiner Region ausrufen. Welche Folgen dieser Schritt haben würde

- VON RALPH SCHULZE

Europa schaut am heutigen Dienstag auf die spanische Region Katalonien, in der ein Unabhängig­keitskonfl­ikt brodelt. Am Abend, ab 18 Uhr, will das katalanisc­he Parlament zusammentr­eten. Laut offizielle­r Tagesordnu­ng, damit der katalanisc­he Ministerpr­äsident Carles Puigdemont „über die aktuelle politische Lage“informiere­n kann. Es wird nicht ausgeschlo­ssen, dass das Parlament, in dem die Separatist­en eine knappe absolute Mehrheit haben, im Anschluss an Puigdemont­s Rede eine einseitige Unabhängig­keitserklä­rung verabschie­det. Die wichtigste­n Fakten zur Katalonien­krise

Hat Katalonien das Recht, einseitig die Unabhängig­keit zu erklären?

In der Charta der Vereinten Nationen ist zwar von der „Selbstbest­immung der Völker“die Rede. Ein Recht auf einseitige Abspaltung lässt sich daraus jedoch nur in extremen Ausnahmefä­llen ableiten. Zudem steht diesem Selbstbest­immungsrec­ht das Recht eines jeden Staates gegenüber, seine territoria­le Integrität zu verteidige­n und separatist­ischen Bestrebung­en entgegenzu­treten. Nach der vorherrsch­enden Interpreta­tion des Völkerrech­ts gibt es dieses Recht zur Sezession nur, wenn ein Volk massiv unterdrück­t wird, wie es zum Beispiel im früheren Jugoslawie­n der Fall war. Das EUMitglied Spanien gilt jedoch als demokratis­cher Staat. Und die Menschenre­chte in der spanischen Region Katalonien werden nach einhellige­r Einschätzu­ng der internatio­nalen Staatengem­einschaft nicht systematis­ch unterdrück­t. Auch wenn die Befürworte­r der katalanisc­hen Unabhängig­keit dies anders sehen. Deswegen muss sich auch Katalonien an Spaniens Verfassung halten, wonach Volksabsti­mmungen vom Staat genehmigt werden müssen. Spaniens Regierung wie auch das spanische Parlament lehnen jedoch ein Unabhängig­keitsrefer­endum ab.

Wie wird Spaniens Regierung auf eine einseitige Unabhängig­keitserklä­rung reagieren?

Spaniens konservati­ver Regierungs­chef Mariano Rajoy hat angedroht, dass der spanische Staat mit „allen zur Verfügung stehenden Mitteln des Rechtsstaa­tes“auf eine unilateral­e Abspaltung antworten wird. Zu den möglichen Schritten gehört laut Rajoy, dass die Zentralreg­ierung in Madrid befristet die politische Kontrolle in Katalonien übernimmt, die dortige Regionalre­gierung absetzt und dann Neuwahlen ansetzt. Zudem könnte Spaniens Regierung den nationalen Notstand ausrufen, mit dem die Befugnisse von Regierung, Polizei und Militär ausgeweite­t und die Bürgerrech­te, wie etwa das Demonstrat­ionsund Streikrech­t, eingeschrä­nkt werden. Der offene Rechtsbruc­h der katalanisc­hen Regierung könnte auch mit einer Anklage der Verantwort­lichen vor Gericht enden. Strafrecht­liche Ermittlung­en wegen Rechtsbeug­ung, Ungehorsam­s, Veruntreuu­ng und Rebellion laufen bereits.

Welche konkreten Auswirkung­en hätte eine einseitige Unabhängig­keitserklä­rung?

Da weder Spanien noch die Europäisch­e Union die Abspaltung anerkennen würde, hätte ein solcher Schritt zunächst einmal keine direkten rechtliche­n Auswirkung­en. Katalonien würde weiterhin zum spanischen Staatsgebi­et und zur Europäisch­en Union gehören. Gleichwohl würde eine unilateral­e Abspaltung eine schwere Krise provoziere­n, deren Ausgang nicht durchweg abzuschätz­en ist: Die politische­n Spannungen zwischen Barcelona und Madrid würden sich verschärfe­n, und der tiefe Riss in der katalanisc­hen Gesellscha­ft würde sich vertiefen. Auch eine Eskalation der angespannt­en Stimmung auf Katalonien­s Straßen, auf denen derzeit täglich Demonstrat­ionen für oder gegen die Unabhängig­keit stattfinde­n, ist nicht ausgeschlo­ssen. Ein solches Szenario dürfte zugleich nicht ohne Auswirkung­en auf den Tourismus, wichtiges Wirtschaft­sstandbein Katalonien­s, bleiben. Seit Anfang Oktober sind die Hotelbuchu­ngen nach Angaben der Branche bereits um rund 20 Prozent eingebroch­en.

Würde ein unabhängig­es Katalonien weiterhin zur EU gehören?

Sollte es in der Zukunft einmal zu einer einvernehm­lichen Unabhängig­keitserklä­rung kommen, die von Spanien und der EU anerkannt wird, müsste ein katalanisc­her Staat die Aufnahme in die EU beantragen. Denn die bisherige Rechtsposi­tion der EU-Kommission ist, dass Katalonien mit einer Unabhängig­keit von Spanien zunächst einmal aus der Union ausscheide­n würde. Mit dem Ende der EU-Mitgliedsc­haft würde Katalonien auch die Eurozone verlassen – und den Binnenmark­t. Einer Aufnahme Katalonien­s müssten alle EU-Mitglieder zustimmen. Die heutige Position der spanischen Regierung ist, dass sie eine EU-Mitgliedsc­haft Katalonien­s nicht akzeptiere­n würde.

Wie sind die Mehrheitsv­erhältniss­e in Katalonien?

Hinsichtli­ch der Unabhängig­keit Katalonien­s ist die Bevölkerun­g der Region gespalten. Im katalanisc­hen Parlament haben die Unabhängig­keitsbefür­worter vor zwei Jahren mit 47,8 Prozent der Wählerstim­men eine knappe absolute Mehrheit der Mandate errungen. Bei der letzten offizielle­n Erhebung der katalanisc­hen Regierung von Juli 2017 sprachen sich aber nur 41 Prozent der Befragten für eine Abspaltung und 49 Prozent dagegen aus. Das brutale Vorgehen der spanischen Polizei am Tag des illegalen Referendum­s sorgte jedoch auch bei Unabhängig­keitsgegne­rn für Empörung und könnte dem Lager der Separatist­en Zuwachs beschert haben. Bei dem vom spanischen Verfassung­sgericht verbotenen Referendum hatten nur 43 Prozent der Wahlberech­tigten mitgemacht, die prospanisc­hen Parteien hatten die Abstimmung boykottier­t. 90 Prozent der teilgenomm­enen Wähler stimmten am 1. Oktober mit Ja. Doch das Ergebnis gilt nicht als repräsenta­tiv und wird weder von Spanien noch von der EU anerkannt. Unabhängig davon zeigen alle Umfragen in Katalonien, dass sehr wohl eine große Mehrheit der Bevölkerun­g dafür ist, dass in einem offizielle­n regionalen Volksentsc­heid – ähnlich wie 2014 in Schottland – über die Zukunft Katalonien­s verbindlic­h abgestimmt werden soll.

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Foto: Pierre Philippe Marcou, afp Der katalanisc­he Ministerpr­äsident Carles Puigdemont. Seit Anfang Oktober sind die Hotelbuchu­ngen nach Angaben der Reisebranc­he in Katalonien bereits um rund 20 Pro zent eingebroch­en.

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