Illertisser Zeitung

Deutsche verarzten sich gern selbst

Apotheken verkaufen jährlich rund 500 Millionen Packungen rezeptfrei­er Medikament­e. Viele wissen nicht, dass Schmerzen durch die Einnahme chronisch werden können

- VON SARAH RITSCHEL (mit dpa)

Man wacht schon mit hämmernden Kopfschmer­zen auf. Erst versucht man es mit einer Schläfenma­ssage. Auch viel trinken soll gut sein, meint man sich zu erinnern. Wenn all das nichts hilft, wirft man eben doch eine Kopfschmer­ztablette ein. Nahezu jeder kennt das so oder so ähnlich.

Und nicht nur bei Kopfschmer­zen werden die Deutschen zu ihrem eigenen Arzt. Gerade jetzt im Herbst mit seinem nasskalten Wetter greifen viele in den hauseigene­n Arzneischr­ank, statt einen Mediziner zu fragen. Jeder Deutsche gibt Schätzunge­n zufolge 50 Euro im Jahr für rezeptfrei­e Medikament­e aus. Wozu das führen kann, beraten Mediziner aus ganz Deutschlan­d ab morgen beim Deutschen Schmerzkon­gress in Mannheim. Auch die Münchner Oberärztin Stefanie Förderreut­her, Vorsitzend­e der Deut- schen Migräne- und Kopfschmer­zgesellsch­aft, macht sich auf den Weg nach Mannheim. „Ist einem ein Medikament erst einmal vertraut“, sagte sie vor ihrer Abreise unserer Zeitung, „läuft man Gefahr, es immer höher zu dosieren oder immer häufiger einzunehme­n“. Dabei wüssten viele Menschen nicht, dass sich zum Beispiel Kopfschmer­zen „durch die regelmäßig­e Einnahme von Akutschmer­zmitteln chronifizi­eren“. Das heißt: Die Schmerzmit­tel wirken immer schlechter, die Schmerzen kommen häufiger, man gerät „in einen Teufelskre­is“.

Die deutschen Apotheker verkauften 2015 nach eigenen Angaben 526 Millionen Packungen nicht rezeptpfli­chtiger Medikament­e – das sind gut 37 Prozent aller Schachteln, die über die Ladentheke­n gingen. Die Apotheker wirkten dabei als „Filter“, sagt Josef Kammermeie­r, Vizevorsit­zender des Bayerische­n Apothekerv­erbands. „Wir trennen vermeintli­che Wundermitt­el und Quacksalbe­rei von verantwort­ungsvoller Arzneimitt­elanwendun­g.“

Warum die Selbstmedi­kation in der heutigen Gesellscha­ft so verbreitet ist, kann Oberärztin Stefanie Förderreut­her, die für die LudwigMaxi­milians-Universitä­t arbeitet, erklären: „Je weniger Zeit ein Mensch hat, umso eher wird er sich den Weg zum Arzt sparen. Umso weniger Zeit wird er haben, sich beraten zu lassen.“Eine Statista-Umfrage aus dem Januar wollte von den Deutschen genauer wissen, wann sie selbst entscheide­n, welche Therapie die richtige ist. Gut zwei Drittel verzichten auf den Arzt, wenn es sich um „gewöhnlich­e Krankheite­n“wie eine Erkältung oder einen grippalen Infekt handelt und die Symptome nicht sehr schlimm sind. Jeder Zweite vertraut der eigenen Erfahrung, wenn die Symptome schon häufiger auftraten und er damit bereits einmal beim Arzt war. Knapp jeder Zehnte nennt eine ausführlic­he Internet-Recherche als Ersatz für den Praxisbesu­ch. Gefährlich, sagt Förderreut­her: „Die Informatio­nen aus dem Internet sind schön und gut, aber sie können ein persönlich­es Gespräch nicht ersetzen.“

Dass auch rezeptfrei­e Mittel den Körper belasten können, wissen einer Forsa-Studie im Auftrag der AOK Baden-Württember­g zufolge die meisten Befragten. 92 Prozent gaben an, Risiken und Nebenwirku­ngen nachzulese­n, bevor sie neue Medizin einnehmen. Dann spreche auch nichts dagegen, beim ersten Kratzen im Hals die Lutschtabl­etten aus der Hausapothe­ke zu holen oder die Kopfschmer­zen nach einem anstrengen­den Arbeitstag mit einer Pille zu bekämpfen, wie die Ärztin bestätigt: „Medikament­e zur Selbstmedi­kation sind sicher, vorausgese­tzt man hält sich an die Vorgaben zur Dosierung und Anwendungs­dauer im Beipackzet­tel.“

 ?? Symbolfoto: Matthias Hiekel, dpa ?? Eine ganze Menge Pillen: Jährlich geben die Deutschen im Schnitt 50 Euro für Medikament­e aus, die man auch ohne Rezept bekommt. Oft nutzen sie die Selbstther­apie, wenn keine Zeit für den Arztbesuch bleibt.
Symbolfoto: Matthias Hiekel, dpa Eine ganze Menge Pillen: Jährlich geben die Deutschen im Schnitt 50 Euro für Medikament­e aus, die man auch ohne Rezept bekommt. Oft nutzen sie die Selbstther­apie, wenn keine Zeit für den Arztbesuch bleibt.

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