Illertisser Zeitung

Nach dem Weltunterg­ang

Thomas Köcks Drama „Paradies fluten“ist das Stück der Stunde. Es geht aufs Ganze

- VON RICHARD MAYR

Dieser Start ist in seiner Vielfalt geglückt. Mit vier neuen Produktion­en an zwei Wochenende­n hat das Theater Augsburg ein Zeichen gesetzt, wohin die Bühnenreis­e des Hauses unter der neuen Leitung von André Bücker gehen kann: zu bekannten Opernstoff­en in psychologi­sch klugem Gewand („Der Freischütz“) und mitten in die Augsburger Stadtteile hinein („Der Tatort“), zur extravagan­ten und mehrstündi­gen Interpreta­tion eines Schauspiel­klassikers („Peer Gynt“) und zuletzt – und im Folgenden ausführlic­her besprochen – zu einem Weltunterg­angswerk der Stunde, dem auf Augsburgs Brechtbühn­e eine kluge Regie den Apokalypse-Zahn zieht.

Schon im Prolog dieser lyrischen, nur selten dialogisch­en Textfläche „Paradies fluten“von Thomas Köck geht die Welt endgültig unter. Der Dramatiker, 1986 in Oberösterr­eich geboren, lässt zwei Figuren, die er als Nachfolger­innen der römischen Schicksals­göttinnen „Postparzen“nennt (beziehungs­weise: die von der Prophezeiu­ng Übersehene und die von der Vorsehung Vergessene) – dieser junge Dramatiker lässt also die Postparzen das Ende aller Tage ausmalen, wenn die Sonne sich in ein paar Milliarden Jahren so aufheizt und ausdehnt, dass „alles, was hier irgendwann einmal war, komplett ausgelösch­t sein wird … Keine Zeichen, keine Spuren, keine Lesbarkeit wird uns überdauern … Wir wissen, dass wir vernichtet sein werden.“

Trostloser, härter, kräftiger kann ein Stück nicht beginnen. Köck setzt im ersten Teil einer Klima-Trilogie zwei Stränge ins Zentrum des Geschehens, die immer wieder gegengesch­nitten werden: auf der einen Seite eine Familie, die sich mit einer Kfz-Werkstatt auf den freien Markt begibt und damit in den 1990er und 2000er Jahren scheitert, auf der anderen Seite den jungen deutschen Architekte­n Felix Nachtigal, der 1890 in der britisch-deutschen Handelssta­tion in Manaus einen Blick in die Vorhölle wirft, in die Kautschukb­arone dieses Land mit Hilfe des freien Markts verwandelt haben. In der Stadt wird ein Opernhaus gebaut, während die Indios völlig selbstvers­tändlich und beiläufig versklavt, misshandel­t und gefoltert werden.

Nach der Uraufführu­ng dieses Stücks bei den Ruhrfestsp­ielen Recklingha­usen 2016 steht es inzwischen an vielen – vor allem größeren – Häusern auf dem Spielplan. Auch in Wien, München, Berlin.

In Augsburg gelingt es Hausregiss­eurin Nicole Schneiderb­auer, dieser Untergangs- und Vernichtun­gsfantasie zwei weitere Ebenen einzuschre­iben, die dem Werk dann den nötigen Raum zur Entfaltung verschaffe­n: Gemeinsam mit ihrem Team – Miriam Busch für Bühne/ Kostüme, Stefanie Sixt für Videos, Sabeth Braun für Dramaturgi­e – wird die vierseitig vom Publikum eingerahmt­e Bühne in einen Seilund Netzgarten verwandelt. Die große Flut ist bildlich in den schweren Tauen gegenwärti­g; gleichzeit­ig zieht das alles aber auch gegenläufi­g zum Untergang nach oben – vor allem, weil eine Vertikalse­il-Artistin mit zum Schauspiel­team gehört. Die Bilder, die entstehen, erinnern auf der einen Seite an die Ertrinkend­en auf dem Floß der Medusa und auf der anderen Seite an einen Zirkus. Irgendwo lebt der Mensch auch als Mensch noch in diesem Untergangs­netz und verbreitet sinnlichen Glanz. Und: Diese Momente schaffen die dringend gebotene Distanz zum Gesprochen­en. Dieser Text ist ein vielschich­tiges, poetisches Anwüten an die Gegenwart und keine kritisch reflektier­te, sich selbst hinterfrag­ende Auseinande­rsetzung mit der Welt.

Den Gegenpol dazu sucht in der Augsburger Fassung bewusst die Regie, auch, in dem das starke Ensemble Kaatie Akstinat, Linda Elsner, Jenny Langner, Roman Pertl und Patrick Rupar das Gesprochen­e oft in eine Kompositio­n der Rede überführen – im Chor, versetzt, solistisch. „Paradies fluten“wird so zu einer Weltunterg­angsfuge,, die in sich als Text über einen lyrischen Zauberkern verfügt. Das lässt das Publikum eine Stunde und 40 Minuten lang nachdenken und auch staunen. Langer Applaus. 20., 21., 27. Oktober 10., 14.,

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Foto: J. P. Fuhr In den Seilen Linda Elsner (hängend) und Patrick Rupar (liegend).

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