„Große Parallelität zum Terror der Dschihadisten“
Stefan Aust über die Wurzeln der RAF, das Abdriften in die Gewalt und die Geheimnisse, die auch nach 40 Jahren geblieben sind
Herr Aust, zwischen den islamistischen Terrorgruppen von heute und den linksextremistischen Zirkeln vor 40 Jahren gibt es eine Gemeinsamkeit: Sie sehen sich nicht als Terroristen, sondern als Kämpfer für eine in ihren Augen bessere Welt.
Die Gemeinsamkeit zwischen Dschihadisten und der RAF liegt auf einer umfassenderen Ebene. Die Ideen der RAF hatten nicht nur eine linksradikal-kommunistische, sondern auch eine religiöse Dimension. Das Bekenntnis war: Wir machen uns selbst nicht nur zur Waffe, sondern zum Teil auch zum Opfer, um das durchzusetzen, was wir für richtig halten. Die RAFMitglieder haben zwar nicht an die Freuden im Paradies geglaubt. Aber sie waren mit einem sehr großen moralischen Anspruch dabei, um die Welt in ihrem Sinne besser zu machen. Und es kam immer eine suizidale Komponente hinzu. Das ist eine große Parallelität zum Terror der Dschihadisten.
Hat dabei eine religiöse Prägung des Elternhauses mitgewirkt?
Ja. Führende Mitglieder der RAF wie Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin kamen aus einem streng evangelisch geprägten christlichen Elternhaus. Nach den Brandanschlägen auf zwei Frankfurter Kaufhäuser 1968 sagte Pastor Helmut Ensslin, der Vater von Gudrun Ensslin, er habe den Eindruck einer „ganz heiligen Selbstverwirklichung“. Das erinnert doch stark an den Dschihadismus.
Wie erklärt man einem heutigen Jugendlichen, der zur Zeit des Mauerfalls noch nicht geboren war, was die RAF war und was sie wollte?
Man muss die RAF in einem größeren Zusammenhang sehen. Und zwar mit der Jugend- und Studentenrevolte auf der ganzen Welt. Die wurde getragen von der Generation derjenigen, die noch im Krieg oder kurz nach dem Krieg geboren war. Als sie um die 20 waren, wurden die Eltern erstmals gefragt: Was habt ihr im Krieg eigentlich gemacht? Das war ja verdrängt worden. Die Amerikaner waren die Guten, weil sie uns vom Faschismus befreit, Coca Cola und vor allem Rock ’n’ Roll gebracht hatten. Dann kam der Vietnamkrieg. Das war ein moralisches Desaster für die Amerikaner. Auch in Deutschland gingen die jungen Leute auf die Straße. Hier kam die nicht bewältigte Vergangenheit hinzu. Das hat die Lage verschärft, denn viele Leute bei Polizei und Justiz hatten keine saubere Weste. Kanzler Kurt-Georg Kiesinger war ja selbst Mitglied der NSDAP gewesen. Den Eliten fehlte es an moralischer Legitimation. Die Studentenbewegung ließ mit der Zeit in ihrem Elan nach, aber einige wollten die Fackel des Protests weitertragen. Im wörtlichen Sinn. So wurden Kaufhäuser in Brand gesteckt. Es war ein schrittweises Abdriften in die Gewalt und dann in den Untergrund. Der Weltkrieg gegen die USA sollte in die Metropolen getragen werden.
Es entstand später eine regelrechte Hysterie um die Bedrohung durch den RAF-Terror. Mangelte es dem Staat an Gelassenheit und die RAF profitierte davon?
Leute, die bei Protesten von der Polizei zusammengeknüppelt wurden oder die Bedingungen in den Gefängnissen erlebten, haben sich weiter radikalisiert. Teilweise hat auch der Gesetzgeber überzogen, etwa wenn es um die Prozesse gegen die Baader-Meinhof- oder später die RAF-Häftlinge ging. Da ist der Rechtsstaat an seine Grenzen gegangen. Aber aus heutiger Sicht ist er nicht über diese Grenzen hinausgegangen. Das war auch ein Verdienst einer aufmerksamen Öf- fentlichkeit, die genau beobachtete, was passierte.
Die Geschichte der RAF liest sich bis in den Deutschen Herbst als die Geschichte einer – salopp gesagt – AG zur Gefangenenbefreiung. Eine politisch handelnde Gruppe war nur rudimentär vorhanden. Warum?
In den Schriften der RAF wurde im Grunde nichts anderes vertreten als das, was die Studentenbewegung an Forderungen erhoben hat. Der einzige Unterschied: Die einen wollten den Marsch durch die Institutionen, die anderen sagten, es hilft nur Gewalt. Man glaubte, wenn man den Staat dazu zwinge, sein faschistisches Gesicht zu zeigen, würde die Bevölkerung die Revolution machen. Eine totale Schnapsidee. Aber man darf nicht vergessen: Das Abtauchen in den Untergrund schafft durch die notwendige Logistik – falsche Pässe, Wohnungen und vor allem Geld – seine eigenen Zwänge. Dann überfällt man Banken, benutzt Waffen. Dann muss man damit rechnen, dass jemand eingebuchtet wird, was ja passierte. So hat sich die RAF mit der Zeit immer mehr um sich selbst gedreht. Das heißt: Die einen haben quasi alles getan, um ins Gefängnis zu kommen, und die anderen haben alles getan, um jene wieder rauszuholen.
Und die Märtyrer-Attitüde hat in die Unterstützerszene gewirkt ...
Das spielte eine gewaltige Rolle! Wir Deutschen haben eine aus der Vergangenheit kommende Neigung, Opfer immer als Märtyrer zu sehen. Wenn bei Bombenanschlägen Unbeteiligte verletzt wurden, kostete das Sympathien. Anders wurde es durch die anfangs prekären Haftbedingungen für RAF-Mitglieder: Einzelhaft, ansonsten leerer Zellentrakt. Aus der Isolationshaft wurde draußen die „Isolationsfolter“. Jetzt waren die Insassen wieder Opfer und es brachte ihnen Sympathien ein. Das ließ stark nach, als die „Landshut“mit unbeteiligten Passagieren entführt wurde.
Mit dem Herbst 1977 hat die RAF ihren Höhepunkt überschritten, aber noch nicht ihr Ende erreicht. Warum wurde weiter gemordet, etwa beim Bankier Alfred Herrhausen und beim Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder sogar nach dem Mauerfall?
Das politische Konzept bestand darin, Leute umzubringen und aus dem Hinterhalt zu erschießen. Ziel war die Ermordung der „Feinde der Arbeiterklasse“. Es gab dazu immer Bekennerschreiben. Der Unterschied ist: Bis zum Herbst 1977 gab es das konkrete Ziel der Gefangenenbefreiung. Das war nach Mogadischu sinnlos geworden, denn der Staat ließ sich nicht erpressen. Es war klar: Eine große Aktion, wie es die Schleyer-Entführung gewesen war, würde nicht funktionieren. Die RAF wusste aber, wie man konspirativ lebt und Anschläge durchführt. Es waren aber nichts weiter als Killerkommandos.
Stichwort Todesnacht von Stammheim: Warum weigern sich die politisch Verantwortlichen in den Ministerien und Behörden auch 40 Jahre nach den Ereignissen, alle bekannten Tatsachen offenzulegen – wie die Abhöraktionen gegen die Zelleninsassen?
Ich kann Ihnen diese Fragen nicht wirklich beantworten. Aber wenn es so ist, dass die RAF-Häftlinge in ihren Zellen abgehört worden sind – und die Indizien dafür sind erdrückend –, dann müsste es davon ein Tonband geben. Man kann darüber spekulieren, was damit geschehen ist und warum. Ich halte mich da zurück. Aber wenn man das Ganze logisch durchdenkt, kann man sich ausmalen, warum manche Leute einen Horror davor haben, dass die Sache wieder auf den Tisch kommt.
Inzwischen liegen die Teile der „Landshut“in einer Halle des Flughafens in Friedrichshafen. Was halten Sie von der Idee, die Maschine zu einem Erinnerungsort zu machen?
Ich bin kein großer Anhänger von Reliquien. Das Motorrad zu zeigen, von dem aus Sigfried Buback erschossen wurde, halte ich für makaber. Aber die „Landshut“hat eine andere Bedeutung. Ihre Entführung und Befreiung hat für Deutschland einen sehr großen Erinnerungswert für die Fragen, was Terrorismus eigentlich bedeutet. Wenn man in Filmen und Dokus sieht und hört, was sich da abgespielt hat, wird einem immer noch übel. Das war der reinste Horror – für das vermeintlich humane Ziel, Gefangene zu befreien. Das ist bestialisch, was die Entführer gemacht haben. ● ●
Der Anführer des Terrorkom mandos erschießt in Aden vor den Augen der Passagiere den Flugka pitän Jürgen Schumann. ● Die „Landshut“landet in Somalias Hauptstadt Mogadischu. Staatsminister Hans Jürgen Wi schnewski (SPD) trifft in Mogadischu ein. Eine Sonderma schine mit Antiterrorspezialisten der Grenzschutzgruppe (GSG) 9 landet in Mogadischu. ●
Die GSG 9 stürmt das Flug zeug, erschießt drei der vier Terroris ten. Die Passagiere bleiben bis auf leichte Blessuren unverletzt.
Wachtmeister entdecken im Stammheimer Hochsicherheitstrakt die Leichen der RAF Häftlinge An dreas Baader, der sich erschossen hat, und Gudrun Ensslin, die sich in ihrer Zelle erhängt hat. RAF Terro rist Jan Carl Raspe stirbt an einem Kopfschuss. RAF Mitglied Irmgard Möller überlebt mit Schnittverlet zungen. In den wird Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer erschossen, der sich seit dem 5. September in der Gewalt der RAF befunden hat. ●
Schleyers Leiche wird im Kof ferraum eines grünen Audis im fran zösischen Mülhausen/Elsass ge funden. Der anonyme Hinweis kommt von der RAF. (afp, AZ)