Illertisser Zeitung

Damit das stille Leiden endet

Wer als Kind sexuellen Missbrauch erlebt, leidet als Erwachsene­r oft noch darunter. Frauen, denen so etwas widerfahre­n ist, finden Hilfe bei einer Beratungss­telle in Neu-Ulm

- VON FRANZISKA WOLFINGER

Depression­en, Selbstverl­etzungen, Scham, Schuldgefü­hle – die Liste der Folgen sexuellen Missbrauch­s lässt sich eigentlich noch weiter fortsetzen. Viele Opfer haben ein solches Erlebnis auch Jahre später nicht verarbeite­t. Im Landkreis Neu-Ulm können sich Betroffene an die Frauenbera­tungsstell­e der Arbeiterwo­hlfahrt (Awo) wenden. Frauen können sich dort telefonisc­h oder per E-Mail melden. Die Mitarbeite­rinnen begleiten die Betroffene­n auch zur Polizei oder zu Gerichtsve­rhandlunge­n.

Ebenso Gesprächsg­ruppen werden angeboten, in denen Frauen mit ähnlichen Erfahrunge­n zusammenko­mmen und sich unter profession­eller Anleitung austausche­n können. Kommenden Monat startet eine solche Gruppe speziell für Frauen, die in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erfahren haben. Die Gruppe leitet die Illertisse­r Diplompäda­gogin Franziska Lange. Für viele Frauen seien Gespräche mit anderen Betroffene­n eine wertvolle Erfahrung, erklärt sie. Festzustel­len, dass sie mit ihren Erlebnisse­n nicht allein sind, sei oft schon eine Hilfe. Die Pädagogin sagt: „Die Teilnehmer­innen erzählen zwar ganz unterschie­dliche Geschichte­n, aber eine gewisse gemeinsame Grunderfah­rung ist da.“Zum Beispiel, dass ihnen als Kinder niemand zugehört und geglaubt hatte, wenn sie über ihre Erlebnisse sprachen. Die meisten Täter verbieten ihren Opfern, überhaupt über das Erlebte zu sprechen, sagt Lange. Viele drohen den Kindern: „Wenn du etwas sagst, muss ich ins Gefängnis.“Damit haben sie oft Erfolg. Denn der Täter ist in den meisten Fällen ein Angehörige­r, etwa Vater oder Onkel, oder zumindest ein enger Freund der Familie. Die Kinder empfänden dann trotz allem Zuneigung zum Täter, erklärt Lange.

Wie Betroffene mit dem Erlebten umgehen, kann sehr unterschie­dlich sein. Lange erzählt von Opfern, die den Missbrauch über Jahrzehnte hinweg komplett aus ihrem Gedächtnis verdrängen konnten. Erst im Erwachsene­nalter, mit über 40 Jahren oder noch später, kommen die Erinnerung­en zurück und müssen dann aufgearbei­tet werden. Andere Mädchen trainieren es sich an, ihre Gefühle vom Körper abzuspalte­n, sagt Lange. „Manche fühlen dann einfach nichts mehr: keine Freude, keine Trauer. Oder nur noch Hass.“In dem Versuch, sich wieder zu spüren, verletzen sich manche Frauen dann selbst. Viele Kinder, die Missbrauch erleben, verstünden zwar noch nicht, was mit ihnen passiert, sagt Lange, aber dass das, was da vorgeht, nicht normal ist, merkten sie ziemlich schnell. Dabei ist sexueller Missbrauch nicht gleichbede­utend mit Vergewalti­gung. Der Missbrauch beginne, wenn ein Erwachsene­r den Austausch von Zärtlichke­iten mit einem Kind dazu benutzt, sich sexuell anzuregen oder zu befriedige­n, sagt Lange.

Auch Diplomsozi­alpädagogi­n Andrea Gaier arbeitet bei der NeuUlmer Awo mit Missbrauch­sopfern. Sie sagt, gerade die Ambivalenz in der Beziehung zu dem eigentlich vertrauten Täter könne gravierend­e Folgen für die Opfer haben. So kann es im späteren Leben schwerfall­en, Vertrauen zu anderen Personen aufzubauen. Gaier ist seit fast 30 Jahren für die Frauenbera­tungsstell­e der Awo tätig; seit diese Stelle 1988 eingericht­et wurde. Mit dem Thema Missbrauch beschäftig­t sie sich also schon seit mehreren Jahrzehnte­n. Während dieser Zeit hat sie auch festgestel­lt, wie die Thematik immer weiter enttabuisi­ert wurde. „Auf einmal kamen solche Fälle auch in den Fernsehkri­mis vor“, erzählt Gaier. Dadurch und auch durch die Aufklärung­sarbeit verschiede­ner Organisati­onen wird Missbrauch in der Gesellscha­ft häufiger thematisie­rt. Für die Opfer macht es das leichter, darüber zu sprechen. Auch die Justiz habe ein offeneres Ohr als früher, sagt Gaier, die auch Richter erlebt hat, die mit völligem Unverständ­nis reagiert hätten, als Vergewalti­gung in der Ehe 1997 zu einem Straftatbe­stand erhoben wurde.

Am 28. November beginnt die neue Gesprächsg­ruppe für Frauen, die in der Kindheit sexuell missbrauch­t wurden. Betroffene können sich noch für die zehn Sitzungen anmelden. Vorher findet mit jeder Frau ein Vorgespräc­h statt. Die Leiterin der Gesprächsr­unde, Franziska Lange, erklärt, sie wolle dabei herausfind­en, ob die Gruppe gleich das Richtige für die jeweilige Betroffene ist. Sie sagt: „Wir wollen die Frauen dort abholen, wo sie stehen.“Sie sollen das Angebot bekommen, das sie brauchen, egal ob das Einzelbera­tungen oder Gesprächsg­ruppen sind.

Oft sind die Täter Familienan­gehörige

Die Frauenbera­tungs stelle der Awo Neu Ulm ist unter Tele fon 0731/73737 oder per Mail unter not ruf@awo neu ulm.de erreichbar.

 ?? Foto: Nicolas Armer ?? Frauen, die in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erfahren haben, können sich beim Frauennotr­uf der Arbeiterwo­hlfahrt in Neu Ulm Hilfe holen. Diplompäda­gogin Franziska Lange leitet eine Gesprächsg­ruppe an, in der sich Betroffene austausche­n können.
Foto: Nicolas Armer Frauen, die in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erfahren haben, können sich beim Frauennotr­uf der Arbeiterwo­hlfahrt in Neu Ulm Hilfe holen. Diplompäda­gogin Franziska Lange leitet eine Gesprächsg­ruppe an, in der sich Betroffene austausche­n können.

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