Rettungstat von Stindl
Die deutsche Nationalmannschaft scheint gegen Frankreich schon geschlagen. Da fällt in der Nachspielzeit noch der Treffer zum 2:2
Die deutsche Nationalmannschaft hat das Länderspiel 2017 mit einem spät erkämpften Unentschieden abgeschlossen. Das Team von Bundestrainer Joachim Löw trennte sich am späten Dienstagabend mit 2:2 gegen Frankreich. Somit ist die deutsche Mannschaft seit 21 Spielen in Folge unbesiegt. Die letzte Niederlage setzte es zuvor im Sommer 2016 – im EM-Halbfinale gegen Frankreich.
Im Vergleich zu dem damaligen Spiel lief gestern aber beinahe eine komplett andere deutsche Mannschaft auf. Die aus Emre Can, Niklas Süle, Mats Hummels und Marvin Plattenhardt bestehende Viererkette spielte in dieser Konstellation zum ersten Mal miteinander – unwahrscheinlich, dass dieser Versuch in weiteren Partien fortgeführt wird. Mit Joshua Kimmich gönnte Löw der Erstbesetzung auf der rechten Seite eine Pause, Jérôme Boateng war wegen muskulärer Probleme unpässlich. So kam es den Deutschen zupass, dass Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps in Dimitri Payet, Paul Pogba und dem ehemaligen Dortmunder Ousmane Dembélé verletzungsbedingt auf drei Spieler verzichten musste, die die zusammengebastelte eingehend auf mögliche Bruchstellen hätte abklopfen können. Antoine Griezmann beließ Deschamps zudem freiwillig auf der Bank.
Aber auch ohne die vier Stars schafften es die Franzosen, oft die Defensive auf ihre Standfestigkeit hin zu überprüfen. Mit Kylian Mbappé und Anthony Martial rannten zwei von Europas schnellsten Offensivspielern oft ungebremst auf Hummels und Co. zu. Erstaunlich war das vor allem, weil Löw in Toni Kroos und Sami Khedira erprobte Wellenbrecher ins Mittelfeld beordert hatte. Nachdem Torwart Kevin Trapp die ersten Möglichkeiten noch vereiteln konnte, war er in der 34. Minute chancenlos. Martial ließ Süle im Strafraum erahnen, wie sich ein Preisboxer fühlt, der einen Hasen einfangen soll. Martial legte quer, Alexandre Lacazette schob ins leere Tor. Die deutsche Offensive hatte den Franzosen in der ersten Halbzeit nur wenig entgegenzusetzen. Timo Werner schaffte es nicht, sich wirkungsvoll in Szene zu setzen, und Ilkay Gündogan war deutlich anzusehen, dass er nach seiner Verletzungspause noch nicht auf höchstem Niveau Impulse setzen kann. In der Summe spielten schlicht zu viele Spieler unter ihren Möglichkeiten, um die Franzosen ernsthaft zu fordern.
Aus der Pause kamen die Deutschen allerdings stark verbessert. Der für Hummels eingewechselte Antonio Rüdiger schob den Ball zwar noch aus fünf Metern nach einem wunderbaren Solo Julian Draxlers vorbei, doch nach 53 Minuten jubelten die deutschen Fans unter den 36 948 Zuschauern in der Kölner Arena. Mesut Özil nutzte den ungewohnten Platz, den ihm die Franzosen beim Durchschreiten des Mittelfelds gewährten, um den Ball auf Werner durchzustecken. Der vollendete den Angriff schließlich, indem er die Kugel Torwart Mandanda durch die Beine und ins Tor schoss.
Fortan entwickelte sich ein Spiel, wie man es von Schulpausenhöfen kennt: Etliche Wechsel und fehlender Ernst bei der Verrichtung defensiver Arbeiten. Und wäre nicht die Latte einem Freistoß von Toni Kroos im Weg gewesen (70.), hätte die deutsche Mannschaft diese Partie möglicherweise gewonnen. So aber fand Mbappé eine Minute später mit einem feinen Pass Lacazette, und der vollendete alleine vor Trapp zum 2:1. Lars Stindl rettete mit der letzten Aktion des Spiels aber noch das Unentschieden, als er eine Vorlage von Mario Götze ins Tor schoss. So haben die Deutschen die Chance, ihre Serie im kommenden März in den Spielen gegen Brasilien und Spanien fortzuführen. Und dann im besten Fall über den 15. Juli hinaus führen. Dann steht das WMFinale in Moskau an.
K. Trapp (Paris St. Germain/ 27/2) – E. Can (FC Liverpool/23/20 – 83. Stindl, Gladbach/29/10), Süle (FC Bay ern/22/8), M. Hummels (FC Bayern/28/62 – 46. Rüdiger, Chelsea/24/22), Platten hardt (Berlin/25/5) – S. Khedira (Tu rin/30/72 – 75. Rudy, FC Bayern/27/24), Kroos (Real Madrid/27/80) – Gündogan (Manchester City/27/22 – 65. M. Götze, Dortmund/25/63), Özil (Arsenal/29/88), Draxler (Paris St. Germain/24/40) – Ti. Werner (Leipzig/21/10 – 85. S. Wagner, Hoffenheim/29/7)
Mandanda (Olympique Mar seille/32/26) – Jallet (Nizza/34/16 – 64. Pavard, VfB Stuttgart/21/2), Varane (Real Madrid/24/40), Umtiti (Barcelona/24/14), Digne (Barcelona/24/20 – 82. Kurzawa, Paris St. Germain/25/11) – Tolisso (FC Bayern/23/5), Rabiot (Paris/22/5), Matui di (Turin/30/62 – 64. N’Zonzi, Sevil la/28/2) – Mbappé (Paris/18/10), A. Laca zette (FC Arsenal/26/16 – 76. Griezmann, Atlético Madrid/26/49), Martial (Manches ter United/21/17)
0:1 A. Lacazette (34.), 1:1 Ti. Werner (56.), 1:2 A. Lacazette (71.), 2:2 Stindl (90.+3) 36 948
Dass ein Schock heilsam sein kann, behauptet nur, wer nicht von diesem angsterfüllenden Moment betroffen ist. Und – wenn es gut läuft – jene, die Jahre später behaupten können: Durch diesen einschneidenden Augenblick nahm mein Leben eine Wendung zum Guten. So wie der Kettenraucher, der dem Nikotin nach einem Herzinfarkt abschwört, statt wenig später dem Lungenkrebs zu erliegen.
Für Gianluigi Buffon und die anderen alternden italienischen Heroen wird dieser Schock niemals eine heilsame Wirkung entfalten. Ihre Karriere im Nationaltrikot ist vorbei. Geendet mit der schlimmsten Schmach in der Geschichte des italienischen Fußballs. Verspielt hat die Squadra Azzurra die Teilnahme an der WM aber nicht mit dem 0:0 gegen Schweden. Das war lediglich der Stoß von einer Klippe, die senkrecht in die Tiefe führt.
Das Team scheiterte bei den vergangenen beiden Weltmeisterschaften bereits in der Vorrunde. Während der letzten EM schwang sich das Team nochmals zu einer taktischen Glanzleistung auf, konnte aber auch da schon nicht über mangelndes Talent hinwegtäuschen. Nun fehlten Nationaltrainer Gian Piero Ventura die nötigen Kniffe, um sein Team wenigstens zu einem Treffer in 180 Minuten gegen Schweden zu führen.
Somit steht der italienische Fußball vor dem gleichen Dilemma wie die deutsche Nationalmannschaft zu Beginn des Jahrtausends. Die fürchterliche EM 2000 beendete die Karrieren von Erich Ribbeck und Lothar Matthäus gleichermaßen. Vier Jahre später trat Rudi Völler nach einer erneut frühzeitig beendeten Europameisterschaft zurück. Da aber waren die Reformen bereits eingeleitet, von denen Joachim Löw heute profitiert.
Deutschlands Juniorennationalteams gehören zur Weltspitze, italienische werden in den Siegerlisten vermisst. Das Konzept der Nachwuchsförderung hat sich sogar bis nach England herumgesprochen und mit dem WM-Sieg der U20 in diesem Jahr erste Früchte getragen. Bei den Briten brauchte es freilich vieler Schockerlebnisse, ehe sie darauf reagierten.
Die auf dem Fußballfeld so clever taktierenden Italiener werden aus dem WM-Aus schneller Konsequenzen ziehen. Für Buffon aber kommen sie zu spät.