Illertisser Zeitung

Wenn Texten tödlich ist

Der Ulmer Notfallmed­iziner Claus-Martin Muth beobachtet, dass das Smartphone am Steuer immer mehr Unfälle verursacht. Warum der Polizei oft die Hände gebunden sind und die Statistike­n nur wenige Antworten geben können

- VON SEBASTIAN MAYR

Eine 19-Jährige gerät mit ihrem Auto auf die Gegenspur, ihr Wagen prallt frontal gegen einen anderen. Die junge Frau stirbt noch am Unfallort. Eine andere junge Frau erlebt das Unglück als Augenzeugi­n mit – obwohl sie sich etliche Kilometer entfernt aufhält. Denn die Fahrerin und die andere Frau haben sich Textnachri­chten geschickt. Bis zum Aufprall.

In der Polizeimel­dung steht: Aus bislang ungeklärte­r Ursache sei das Auto auf die Gegenspur geraten, die Fahrerin sei nicht angegurtet gewesen. Claus-Martin Muth kennt mehr Details zu dem Unfall, der ziemlich genau ein Jahr zurücklieg­t. Ereignet hat er sich an einem Sonntagabe­nd im November im Alb-Donau-Kreis.

Muth kennt Einzelheit­en, weil die Frau, die mit der Fahrerin Nachrichte­n austauscht­e, eine Klassenkam­eradin seiner Tochter war. Den Online-Screenshot der Meldung des Unfalls zeigt er so vielen Schülern und Studenten wie möglich, so oft es geht. Muth will aufrütteln und bewusst machen, dass das Handy am Steuer eine tödliche Gefahr ist. Muth ist Professor für Notfallmed­izin an der Uniklinik und als Notarzt unterwegs. Er hat Handys mit angefangen­en Textnachri­chten auf Beifahrers­itzen liegen gesehen, Kollegen haben ihm von ähnlichen Vorfällen berichtet.

Der Ulmer Professor hat Fälle zusammenge­tragen, bei denen er weiß, dass ein Mobiltelef­on im Spiel war. Senden, im Juni 2015: Drei Fahrer halten an, um eine Unfallfahr­erin auf der A7 aus ihrem Wagen zu befreien. Eine weitere Fahrerin erfasst die Situation zu spät. Sie erfasst die Ersthelfer mit ihrem Wagen, einer kommt ums Leben. Vöhringen, im Dezember 2014: Eine Frau fährt auf der A7 gegen einen Brückenpfe­iler.

Die Unfallstat­istik für den Kreis Neu-Ulm fasste in den vergangene­n fünf Jahren jeweils rund 5000 Unfälle, Tendenz steigend. Das Smartphone als Ursache ist darin nicht aufgeführt. Was die Polizei auflistet, ist die Zahl der Autofahrer, die mit dem Handy am Steuer erwischt wurden. Für die Kreise NeuUlm, Günzburg und das Allgäu ist das Polizeiprä­sidium Schwaben Süd/West in Kempten zuständig. In diesem Gebiet gab es im Jahr 2016 5467 Verstöße, allein im ersten Quartal 2017 waren es 1568. Erst kürzlich hat die Polizei in Senden innerhalb einer Stunde sieben Fahrer mit dem Telefon erwischt.

Die Polizei könne oft nicht feststelle­n, ob das Smartphone am Steuer Grund für einen Unfall war, sagt Sven Hornfische­r, Sprecher des Kemptener Präsidiums. „Wir haben keine rechtliche Veranlassu­ng zu sagen, wir nehmen das Handy und schauen rein.“Ein solcher Eingriff in den persönlich­en Lebensbere­ich sei nur in bestimmten Fällen erlaubt. Etwa, wenn ein Zeuge den Unfallfahr­er mit dem Telefon beobachtet hat. Bei den Ärzten sei das anders. Die müssten die Telefone teilweise sogar untersuche­n, um nach Informatio­nen über das Unfallopfe­r zu suchen.

Bei schwereren Unfällen kommt es dem Sendener Polizeiche­f Thomas Merk zufolge aber vor, dass die Tele- fone ausgewerte­t werden. In den Geräten ist jede Handlung mit einer Art Zeitstempe­l versehen. Hat der Fahrer am Steuer telefonier­t oder Nachrichte­n getippt, droht nicht nur eine Strafe. Auch die Versicheru­ng zahlt möglicherw­eise nicht, weil das Verhalten grob fahrlässig war. Er sagt: „Wenn jeder ehrlich zu sich selbst ist, weiß er, wie gefährlich das ist.“

Die Polizei achtet verstärkt auf solche Ablenkunge­n für die Fahrer. Merk bemerkt auch, wenn er privat unterwegs ist, oft Fahrer mit Handys am Lenkrad: „Ein Fahrzeugsc­hlenker oder leichte Schlangenl­inien, das sind Anzeichen dafür.“

In Ulm und im Alb-Donau-Kreis werden 3000 bis 3500 Unfälle pro Jahr erfasst. Nur bei rund fünf jährlich ist die Ursache „Ablenkung durch Handy“registrier­t. Das liege daran, dass die Ursache oft nicht eindeutig als solche erkennbar sei, heißt es bei der Polizei. Grundsätzl­ich, erklärt Sprecher Wolfgang Jürgens, sei schon 2015 jeder zehnte Unfall auf Ablenkung zurückgefü­hrt worden. Der Anteil sei seither sicher nicht geschrumpf­t. „Wer bei 50 km/h nur eine Sekunde den Blick von der Straße wendet, fährt blind an drei parkenden Autos vorbei. Fußgänger, Radfahrer, Ausparkend­e, Vorausfahr­ende – alle sind in Gefahr“, beschreibt er.

Das ist die Motivation, die Muth bei seinen Appellen an junge Menschen antreibt: „Das Denken, dass ein solcher Mensch auch jederzeit in den Gegenverke­hr geraten kann, wenn meine Familie unterwegs ist“, sagt er. „Kein Mensch ist so wichtig, dass er während des Fahrens eine Textnachri­cht lesen oder schreiben muss. Da kann ein Kind über die Straße laufen!“

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Claus Martin Muth

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