Wenn Texten tödlich ist
Der Ulmer Notfallmediziner Claus-Martin Muth beobachtet, dass das Smartphone am Steuer immer mehr Unfälle verursacht. Warum der Polizei oft die Hände gebunden sind und die Statistiken nur wenige Antworten geben können
Eine 19-Jährige gerät mit ihrem Auto auf die Gegenspur, ihr Wagen prallt frontal gegen einen anderen. Die junge Frau stirbt noch am Unfallort. Eine andere junge Frau erlebt das Unglück als Augenzeugin mit – obwohl sie sich etliche Kilometer entfernt aufhält. Denn die Fahrerin und die andere Frau haben sich Textnachrichten geschickt. Bis zum Aufprall.
In der Polizeimeldung steht: Aus bislang ungeklärter Ursache sei das Auto auf die Gegenspur geraten, die Fahrerin sei nicht angegurtet gewesen. Claus-Martin Muth kennt mehr Details zu dem Unfall, der ziemlich genau ein Jahr zurückliegt. Ereignet hat er sich an einem Sonntagabend im November im Alb-Donau-Kreis.
Muth kennt Einzelheiten, weil die Frau, die mit der Fahrerin Nachrichten austauschte, eine Klassenkameradin seiner Tochter war. Den Online-Screenshot der Meldung des Unfalls zeigt er so vielen Schülern und Studenten wie möglich, so oft es geht. Muth will aufrütteln und bewusst machen, dass das Handy am Steuer eine tödliche Gefahr ist. Muth ist Professor für Notfallmedizin an der Uniklinik und als Notarzt unterwegs. Er hat Handys mit angefangenen Textnachrichten auf Beifahrersitzen liegen gesehen, Kollegen haben ihm von ähnlichen Vorfällen berichtet.
Der Ulmer Professor hat Fälle zusammengetragen, bei denen er weiß, dass ein Mobiltelefon im Spiel war. Senden, im Juni 2015: Drei Fahrer halten an, um eine Unfallfahrerin auf der A7 aus ihrem Wagen zu befreien. Eine weitere Fahrerin erfasst die Situation zu spät. Sie erfasst die Ersthelfer mit ihrem Wagen, einer kommt ums Leben. Vöhringen, im Dezember 2014: Eine Frau fährt auf der A7 gegen einen Brückenpfeiler.
Die Unfallstatistik für den Kreis Neu-Ulm fasste in den vergangenen fünf Jahren jeweils rund 5000 Unfälle, Tendenz steigend. Das Smartphone als Ursache ist darin nicht aufgeführt. Was die Polizei auflistet, ist die Zahl der Autofahrer, die mit dem Handy am Steuer erwischt wurden. Für die Kreise NeuUlm, Günzburg und das Allgäu ist das Polizeipräsidium Schwaben Süd/West in Kempten zuständig. In diesem Gebiet gab es im Jahr 2016 5467 Verstöße, allein im ersten Quartal 2017 waren es 1568. Erst kürzlich hat die Polizei in Senden innerhalb einer Stunde sieben Fahrer mit dem Telefon erwischt.
Die Polizei könne oft nicht feststellen, ob das Smartphone am Steuer Grund für einen Unfall war, sagt Sven Hornfischer, Sprecher des Kemptener Präsidiums. „Wir haben keine rechtliche Veranlassung zu sagen, wir nehmen das Handy und schauen rein.“Ein solcher Eingriff in den persönlichen Lebensbereich sei nur in bestimmten Fällen erlaubt. Etwa, wenn ein Zeuge den Unfallfahrer mit dem Telefon beobachtet hat. Bei den Ärzten sei das anders. Die müssten die Telefone teilweise sogar untersuchen, um nach Informationen über das Unfallopfer zu suchen.
Bei schwereren Unfällen kommt es dem Sendener Polizeichef Thomas Merk zufolge aber vor, dass die Tele- fone ausgewertet werden. In den Geräten ist jede Handlung mit einer Art Zeitstempel versehen. Hat der Fahrer am Steuer telefoniert oder Nachrichten getippt, droht nicht nur eine Strafe. Auch die Versicherung zahlt möglicherweise nicht, weil das Verhalten grob fahrlässig war. Er sagt: „Wenn jeder ehrlich zu sich selbst ist, weiß er, wie gefährlich das ist.“
Die Polizei achtet verstärkt auf solche Ablenkungen für die Fahrer. Merk bemerkt auch, wenn er privat unterwegs ist, oft Fahrer mit Handys am Lenkrad: „Ein Fahrzeugschlenker oder leichte Schlangenlinien, das sind Anzeichen dafür.“
In Ulm und im Alb-Donau-Kreis werden 3000 bis 3500 Unfälle pro Jahr erfasst. Nur bei rund fünf jährlich ist die Ursache „Ablenkung durch Handy“registriert. Das liege daran, dass die Ursache oft nicht eindeutig als solche erkennbar sei, heißt es bei der Polizei. Grundsätzlich, erklärt Sprecher Wolfgang Jürgens, sei schon 2015 jeder zehnte Unfall auf Ablenkung zurückgeführt worden. Der Anteil sei seither sicher nicht geschrumpft. „Wer bei 50 km/h nur eine Sekunde den Blick von der Straße wendet, fährt blind an drei parkenden Autos vorbei. Fußgänger, Radfahrer, Ausparkende, Vorausfahrende – alle sind in Gefahr“, beschreibt er.
Das ist die Motivation, die Muth bei seinen Appellen an junge Menschen antreibt: „Das Denken, dass ein solcher Mensch auch jederzeit in den Gegenverkehr geraten kann, wenn meine Familie unterwegs ist“, sagt er. „Kein Mensch ist so wichtig, dass er während des Fahrens eine Textnachricht lesen oder schreiben muss. Da kann ein Kind über die Straße laufen!“