Missbrauchsfälle: Eine Psychologin glaubt dem Opfer
Im Verfahren gegen einen Stiefvater stand gestern die Geschädigte im Mittelpunkt
Ein ruhiger Mensch und angenehm im Umgang: So hat eine ehemalige Lebensgefährtin den 61-jährigen Angeklagten gestern Gerichtssaal charakterisiert – und damit ein völlig anderes Bild gezeichnet als das von einem Serientäter, der seine Stieftochter jahrelang missbraucht haben soll. Das wird dem Mann vorgeworfen: Hunderte Male soll er die Tochter seiner Frau bedrängt und zum Sex gezwungen haben, heißt es in der Anklageschrift. Der zufolge begannen die Übergriffe 1997 als das Mädchen gerade einmal sieben Jahre alt war. Sie sollen sich in dem Haus in Illertissen abgespielt haben, in dem der Mann, die Frau und deren Töchter wohnten. Aber auch in einer Hütte im Wald bei Altenstadt und am Filzinger Badesee. Die Ankläger stützen sich im Wesentlichen auf die Angaben des mutmaßlichen Opfers, das heute 27 Jahre alt ist. Andere Familienmitglieder verweigern die Aussagen vor Gericht.
Am ersten Prozesstag hatte der Angeklagte, wie berichtet, über seine Anwälte ein Geständnis abgelegt. Möglicherweise auch deshalb, weil die Geschädigte als glaubwürdig gilt: Das Gutachten einer Psychologin dazu stand nun beim zweiten Verhandlungstag im Mittelpunkt. Die Expertin legte dar, warum sie annimmt, dass die Aussagen der jungen Frau wahr sind.
Dafür sprechen die detaillierten Schilderungen. Ein Beispiel: Einmal soll der Mann sein Opfer unsittlich angefasst haben, als es am Fenster stand, um ein Gewitter zu beobachten. Die Umstände der Taten würden anschaulich und konkret berichtet, sagte die Psychologin. Das deckte sich mit den Angaben einer Kriminalpolizistin, die gestern vor Gericht zu Protokoll gab, die junge Frau habe die Waldhütte als Tatort „sehr gut“beschrieben.
Außerdem passten die Angaben des mutmaßlichen Opfers zu typischen Missbrauchsfällen, sagte die Psychologin. Dazu gehöre, dass die sexuellen Übergriffe im Laufe der Zeit immer schwerer geworden seien – von Berührungen über Küsse bis zum Eindringen. Oder dass das Opfer im Jugendalter mit Alkohol gefügig gemacht worden sein soll, von einem „Jägermeisterle“im FKK-Bereich eines Badesees war die Rede. Auch seien die sexuellen Handlungen ohne Gewalt vorgenommen worden – das sei üblich bei Missbrauchsfällen in Familien, sagte die Expertin. Das habe der „Ersatzvater“als Bezugsperson eben nicht nötig gehabt. Einen weiteren Beleg für die Glaubwürdigkeit sah die Gutachterin in der Tatsache, dass die junge Frau sich bei alledem selbst in einem „ungünstigen Licht“darstelle. Etwa wenn sie erzähle, wie sie und ihr Peiniger damals geübt hätten, sich schnell anzuziehen, falls sich jemand nähert. Solche Formen der Kooperation sehe man bei Missbrauchsopfern häufig, hieß es.
Um so genaue Angaben zu erfinden, müsste man sehr intelligent sein, urteilte die Psychologin. Ein Attribut, das sie der jungen Frau, die einst eine Förderschule besuchte, nicht zuschreibt. „Man bräuchte eine Taktierfähigkeit, die ich hier nur sehr eingeschränkt sehe.“Das Fazit: „Die Aussagen sind eindeutig erlebnisbasiert.“
Auch der Angeklagte ergriff gestern das Wort: Das erste Mal seit dem Beginn des inzwischen viele Stunden andauernden Verfahrens. Mit ruhiger, fester Stimme beschrieb sich der 61-Jährige als körperlich schwer kranken Mann. Eine Herzoperation habe sein Leben verändert. Die Folgen seien Depressionen und Lähmungserscheinungen. Auch von Durchblutungsstörungen war zu hören. Und davon, dass der Mann keine Erektion bekommen könne. Der Angeklagte willigte ein, sich von einem Experten begutachten zu lassen. Bisher hatte er sich einer solchen Untersuchung verweigert, nun soll sie doch stattfinden.
Gespannt dürften die etwa ein Dutzend Prozessbeobachter erwarten, ob es dadurch zu einer neuen Entwicklung kommt. Am ersten Verhandlungstag war das Strafmaß von den Prozessbeteiligten auf eine Gefängnisstrafe von vier Jahren und drei Monaten bis hin zu fünf Jahren taxiert worden. Das Verfahren wird am 6. Dezember fortgesetzt.