Wo die Streithansel in der Region leben
Ein Rechtsschutzversicherer sammelt Zahlen über juristische Reibereien. Überraschendes Ergebnis: Die Bayern sind besonders harmoniebedürftig. Die Wut sitzt woanders
Die Deutschen sind dafür berüchtigt, dass sie schnell mal einen Rechtsstreit anzetteln. Es gibt für diese Menschen auch schöne Wörter wie Prozesshansel oder Streithansel. Besonders oft gestritten wird bei Scheidungen (Wer bekommt die Jugendstil-Kommode?), Verkehrsunfällen (Wer hatte Vorfahrt?), am Arbeitsplatz (Warum verdiene ich so wenig?) und wegen der Nebenkostenabrechnung für die Mietwohnung (Kann die Müllabfuhr echt so teuer sein?). Das kann man für ganz Deutschland feststellen. Doch in den einzelnen Bundesländern, Landkreisen und Städten gibt es ganz unterschiedlich oft juristischen Zoff.
Der Rechtsschutzversicherer Advocard gibt dazu eine Statistik heraus, die er „Streitatlas“nennt. Und wie es sich für einen Atlas gehört, bietet dieser eine Landkarte der Reibereien. Ausgewertet wurden laut dem Unternehmen seit der ersten Erhebung 2013 rund 1,7 Millionen Streitfälle. Im Internet kann man nun recht hübsch nachschauen, wo die Wut wohnt. Und da gibt es interessante Auffälligkeiten. ● Folgt man diesem „Streitatlas“, dann sitzen die Streithansel der Region in Kempten. Dort ist die höchste „Streitintensität“gemessen worden: 28,3 Streitfälle pro 100 Einwohner. Das bedeutet, dass mehr als jeder Vierte in Kempten in einem Rechtsstreit liegt. Auf Platz zwei folgt Kaufbeuren mit 23,8 und Augsburg mit 23,6. Der bayerische Durchschnitt liegt bei 21,3, der bundesweite bei 25,1. ● Besonders „friedliebend“sind demnach die Menschen im Landkreis Unterallgäu, wo sich nur etwa jeder Sechste (16,5) mit jemandem juristisch angelegt hat. Auch in den Landkreisen Donau-Ries, Neuburg-Schrobenhausen, Dillingen und Oberallgäu liegt die „Streitintensität“unter 20 Prozent. Das Jahr der Auswertung ist 2016. ● Fast allen Städten und Kreisen der Region ist gemein- sam, dass die Streitursache Nummer eins im Privaten liegt, also beispielsweise in einer Scheidung, einem Erbe oder Reisemängeln. Die zweithäufigsten Streitursachen sind Verkehr und Mobilität und damit Unstimmigkeiten über Unfälle, zu schnelles Fahren oder Mängel beim Autokauf. Einzige Ausnahme ist Kaufbeuren, wo es öfter Ärger rund ums Auto gibt als über das Privatleben. ● Einige Fakten gelten für die Region ebenso wie für ganz Deutschland. Insgesamt sind Männer sehr viel häufiger bereit, einen Rechtsstreit anzufangen, als Frauen. Mehr als zwei Drittel der Scharmützel werden von Männern ausgetragen. Ein zweites Merkmal: Menschen zwischen 46 und 55 zoffen sich nach der Advocard-Statistik am häufigsten. ● Der erste Blick auf die Deutschlandkarte zeigt eine Zweiteilung: Im Süden der Republik geht es harmonischer zu. Rot leuchtet es auf dieser Grafik vor allem im Ruhrgebiet und im Großraum Berlin. Dort gibt es am meisten Ärger. In der Hauptstadt liegt die „Streitintensität“so hoch, dass beinahe jeder Dritte in eine rechtliche Auseinandersetzung involviert ist. In Leipzig, Oberhausen oder Mönchengladbach ist der Wert sogar noch höher. Nordrhein-Westfalen ist das Flächen-Bundesland mit der größten Disharmonie. In Bayern gibt es keine einzige Stadt und keinen Landkreis, der rot für eine Streitintensität jenseits der 30erMarke gefärbt ist. Der Freistaat ist auch das Bundesland mit dem besten Durchschnitt.
Wer nun die Bayern als recht rauflustiges Volk kennengelernt hat oder in Mittelschwaben bereits seinen dritten Rechtsstreit mit dem Nachbarn ausficht und daher an der Aussagekraft der Statistik zweifelt, dem sei Folgendes erklärt: Eine repräsentative, wissenschaftliche Studie ist der „Streitatlas“nicht. Die Zahlen sind folgendermaßen zustande gekommen: Der Rechtsschutzversicherer führt nicht nur die Zahl der Fälle auf, die tatsächlich vor Gericht landen, sondern alle gemeldeten Streitigkeiten. Es fließen also auch juristische Erstberatungen ein, die nicht zwingend in einen Prozess münden müssen. Doch der „Streitatlas“ist überhaupt die einzige Erhebung, die sich mit derlei Zahlen beschäftigt. Von den Justizbehörden werden solche Statistiken nicht geführt. So bleiben auch die Gründe für die großen regionalen Unterschiede offen. Doch erstens wäre das von einer Statistik etwas viel verlangt und zweitens bietet das reichlich Stoff für unterhaltsame Diskussionen.
Ach, es könnte alles so schön sein. Ich sage nur: Streitkultur. Ein wunderbares Wort. Verbindet es doch auf den ersten Blick Hässliches, nämlich den Streit, mit etwas Positivem, Bewahrendem, der Kultur. Und es stimmt ja auch, der zivilisierte Streit ist eine sinnvolle Sache. Ein Muss in einer demokratischen Gesellschaft. Gegner darf man ruhig mal sein. Nur eben niemals Todfeind. Hart um die Sache verhandeln, das ist wichtig. Nur der Respekt füreinander, der darf nie verloren gehen. Egal, ob man sich als Nachbarn über zu laute Musik zofft, als Ehepartner über die Haushaltspflichten oder als Politiker über das große Ganze.
Doch um die Streitkultur muss man sich ernsthaft Sorgen machen. Da helfen offenbar die vielen Ratgeber für jeden nur denkbaren Konflikt wenig. Es ist unüberhörbar: Der Ton in vielen Auseinandersetzungen wird nicht nur schärfer. Er wird auch persönlicher. Und oft respektloser. Viele streiten nicht mehr. Sie bekriegen sich. Für viele ist das Internet die Ursache allen Übels. Nirgends lassen sich schneller Hasstiraden in die Welt setzen und verbreiten. Das Internet spielt sicher eine Rolle. Doch ist die Ursache für diese Entwicklung nicht vielmehr in der Individualisierung zu suchen? Im Trend zu einer Gesellschaft, die das Ich allzu oft über das Wir stellt und in der viele vor allem ihre Rechte zu glauben kennen und nur auf ihren Vorteil bedacht sind?
Die Streitkultur ist ein zu hohes Gut, als dass sie egoistischen Kleinkämpfen geopfert werden darf. Das sollte eigentlich unstrittig sein.