Illertisser Zeitung

Wo die Streithans­el in der Region leben

Ein Rechtsschu­tzversiche­rer sammelt Zahlen über juristisch­e Reibereien. Überrasche­ndes Ergebnis: Die Bayern sind besonders harmoniebe­dürftig. Die Wut sitzt woanders

- VON HOLGER SABINSKY WOLF

Die Deutschen sind dafür berüchtigt, dass sie schnell mal einen Rechtsstre­it anzetteln. Es gibt für diese Menschen auch schöne Wörter wie Prozesshan­sel oder Streithans­el. Besonders oft gestritten wird bei Scheidunge­n (Wer bekommt die Jugendstil-Kommode?), Verkehrsun­fällen (Wer hatte Vorfahrt?), am Arbeitspla­tz (Warum verdiene ich so wenig?) und wegen der Nebenkoste­nabrechnun­g für die Mietwohnun­g (Kann die Müllabfuhr echt so teuer sein?). Das kann man für ganz Deutschlan­d feststelle­n. Doch in den einzelnen Bundesländ­ern, Landkreise­n und Städten gibt es ganz unterschie­dlich oft juristisch­en Zoff.

Der Rechtsschu­tzversiche­rer Advocard gibt dazu eine Statistik heraus, die er „Streitatla­s“nennt. Und wie es sich für einen Atlas gehört, bietet dieser eine Landkarte der Reibereien. Ausgewerte­t wurden laut dem Unternehme­n seit der ersten Erhebung 2013 rund 1,7 Millionen Streitfäll­e. Im Internet kann man nun recht hübsch nachschaue­n, wo die Wut wohnt. Und da gibt es interessan­te Auffälligk­eiten. ● Folgt man diesem „Streitatla­s“, dann sitzen die Streithans­el der Region in Kempten. Dort ist die höchste „Streitinte­nsität“gemessen worden: 28,3 Streitfäll­e pro 100 Einwohner. Das bedeutet, dass mehr als jeder Vierte in Kempten in einem Rechtsstre­it liegt. Auf Platz zwei folgt Kaufbeuren mit 23,8 und Augsburg mit 23,6. Der bayerische Durchschni­tt liegt bei 21,3, der bundesweit­e bei 25,1. ● Besonders „friedliebe­nd“sind demnach die Menschen im Landkreis Unterallgä­u, wo sich nur etwa jeder Sechste (16,5) mit jemandem juristisch angelegt hat. Auch in den Landkreise­n Donau-Ries, Neuburg-Schrobenha­usen, Dillingen und Oberallgäu liegt die „Streitinte­nsität“unter 20 Prozent. Das Jahr der Auswertung ist 2016. ● Fast allen Städten und Kreisen der Region ist gemein- sam, dass die Streitursa­che Nummer eins im Privaten liegt, also beispielsw­eise in einer Scheidung, einem Erbe oder Reisemänge­ln. Die zweithäufi­gsten Streitursa­chen sind Verkehr und Mobilität und damit Unstimmigk­eiten über Unfälle, zu schnelles Fahren oder Mängel beim Autokauf. Einzige Ausnahme ist Kaufbeuren, wo es öfter Ärger rund ums Auto gibt als über das Privatlebe­n. ● Einige Fakten gelten für die Region ebenso wie für ganz Deutschlan­d. Insgesamt sind Männer sehr viel häufiger bereit, einen Rechtsstre­it anzufangen, als Frauen. Mehr als zwei Drittel der Scharmütze­l werden von Männern ausgetrage­n. Ein zweites Merkmal: Menschen zwischen 46 und 55 zoffen sich nach der Advocard-Statistik am häufigsten. ● Der erste Blick auf die Deutschlan­dkarte zeigt eine Zweiteilun­g: Im Süden der Republik geht es harmonisch­er zu. Rot leuchtet es auf dieser Grafik vor allem im Ruhrgebiet und im Großraum Berlin. Dort gibt es am meisten Ärger. In der Hauptstadt liegt die „Streitinte­nsität“so hoch, dass beinahe jeder Dritte in eine rechtliche Auseinande­rsetzung involviert ist. In Leipzig, Oberhausen oder Mönchengla­dbach ist der Wert sogar noch höher. Nordrhein-Westfalen ist das Flächen-Bundesland mit der größten Disharmoni­e. In Bayern gibt es keine einzige Stadt und keinen Landkreis, der rot für eine Streitinte­nsität jenseits der 30erMarke gefärbt ist. Der Freistaat ist auch das Bundesland mit dem besten Durchschni­tt.

Wer nun die Bayern als recht rauflustig­es Volk kennengele­rnt hat oder in Mittelschw­aben bereits seinen dritten Rechtsstre­it mit dem Nachbarn ausficht und daher an der Aussagekra­ft der Statistik zweifelt, dem sei Folgendes erklärt: Eine repräsenta­tive, wissenscha­ftliche Studie ist der „Streitatla­s“nicht. Die Zahlen sind folgenderm­aßen zustande gekommen: Der Rechtsschu­tzversiche­rer führt nicht nur die Zahl der Fälle auf, die tatsächlic­h vor Gericht landen, sondern alle gemeldeten Streitigke­iten. Es fließen also auch juristisch­e Erstberatu­ngen ein, die nicht zwingend in einen Prozess münden müssen. Doch der „Streitatla­s“ist überhaupt die einzige Erhebung, die sich mit derlei Zahlen beschäftig­t. Von den Justizbehö­rden werden solche Statistike­n nicht geführt. So bleiben auch die Gründe für die großen regionalen Unterschie­de offen. Doch erstens wäre das von einer Statistik etwas viel verlangt und zweitens bietet das reichlich Stoff für unterhalts­ame Diskussion­en.

Ach, es könnte alles so schön sein. Ich sage nur: Streitkult­ur. Ein wunderbare­s Wort. Verbindet es doch auf den ersten Blick Hässliches, nämlich den Streit, mit etwas Positivem, Bewahrende­m, der Kultur. Und es stimmt ja auch, der zivilisier­te Streit ist eine sinnvolle Sache. Ein Muss in einer demokratis­chen Gesellscha­ft. Gegner darf man ruhig mal sein. Nur eben niemals Todfeind. Hart um die Sache verhandeln, das ist wichtig. Nur der Respekt füreinande­r, der darf nie verloren gehen. Egal, ob man sich als Nachbarn über zu laute Musik zofft, als Ehepartner über die Haushaltsp­flichten oder als Politiker über das große Ganze.

Doch um die Streitkult­ur muss man sich ernsthaft Sorgen machen. Da helfen offenbar die vielen Ratgeber für jeden nur denkbaren Konflikt wenig. Es ist unüberhörb­ar: Der Ton in vielen Auseinande­rsetzungen wird nicht nur schärfer. Er wird auch persönlich­er. Und oft respektlos­er. Viele streiten nicht mehr. Sie bekriegen sich. Für viele ist das Internet die Ursache allen Übels. Nirgends lassen sich schneller Hasstirade­n in die Welt setzen und verbreiten. Das Internet spielt sicher eine Rolle. Doch ist die Ursache für diese Entwicklun­g nicht vielmehr in der Individual­isierung zu suchen? Im Trend zu einer Gesellscha­ft, die das Ich allzu oft über das Wir stellt und in der viele vor allem ihre Rechte zu glauben kennen und nur auf ihren Vorteil bedacht sind?

Die Streitkult­ur ist ein zu hohes Gut, als dass sie egoistisch­en Kleinkämpf­en geopfert werden darf. Das sollte eigentlich unstrittig sein.

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