Wahrer Herr im Willy Brandt Haus ist jetzt eine Frau
Das knappe Ja zu Koalitionsverhandlungen verschärft die Krise in der SPD. Parteichef Schulz wird aufgefordert, auf ein Ministeramt zu verzichten. Die brisante Kampagne eines Juso verärgert selbst GroKo-Skeptiker
Die SPD steht nach der denkbar knappen Entscheidung auf ihrem Sonderparteitag, Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen, noch immer unter Schock. Während CDU und CSU auf einen schnellen Beginn der Gespräche drängen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gerne am liebsten bis Fasching abschließen würde, sind verstörte Sozialdemokraten weiter dabei, sich zu berappeln.
Immer stärker unter Druck gerät Martin Schulz. Bei einer Sitzung der Bundestagsfraktion musste sich der Parteichef nach Angaben aus Teilnehmerkreisen vor den Abgeordneten für seine weithin als langatmig und uninspiriert empfundene Parteitagsrede vom Sonntag rechtfertigen. Dies tat er offenbar mit dem Verweis auf seine angeschlagene Gesundheit.
Statt Schulz hatte in Bonn vor allem Fraktionschefin Andrea Nahles gepunktet. Ohne ihr mit Leidenschaft vorgetragenes Plädoyer für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen hätte es womöglich nicht einmal für die äußerst knappe Mehrheit von nur 56 Prozent der Delegiertenstimmen gereicht, glauben Parteifreunde. „Sie ist jetzt endgültig der wahre Herr im Willy-Brandt-Haus“, heißt es. Der als Kanzlerkandidat krachend gescheiterte Schulz dagegen wird mit der Forderung aus den eigenen Reihen konfrontiert, im Falle einer Neuauflage der Großen Koalition auf ein Ministeramt zu verzichten. Dies verlangt mit dem designierten thüringischen Landesvorsitzenden und Ex-Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee erstmals ein durchaus prominenter Genosse. Schulz hatte nach der Wahl nicht nur eine Große Koalition seiner SPD mit der Union ausgeschlossen, sondern auch beteuert, keinen Kabinettsposten in einer Merkel-geführten Regierung anzustreben. „Eine 180-Grad-Wende in dieser Frage würde die Glaubwürdigkeit von Martin Schulz erschüttern“, so Tiefensee in einem Interview. Während sich die Spitzen von CDU und CSU gestern in Berlin trafen, um die Koalitionsgespräche vorzubereiten, drückt die SPD-Spitze auf die Bremse. Erst für Donnerstag sind parteiinterne Beratungen angesetzt. Das Personal und die Strategie für die Verhandlungen über einen Koalitionsvertrag sollen sorgfältig gewählt werden. Denn nur bei erfolgreichen Gesprächen ist eine Zustimmung der 440 000 SPDMitglieder, die am Ende über den Gang in die Regierung entscheiden, wahrscheinlich. Die Delegierten haben der Parteispitze in Bonn den Auftrag erteilt, die mit der Union beschlossenen Sondierungsergebnisse noch deutlich nachzubessern. Doch ob sich in der Gesundheitspolitik, beim Familiennachzug für Flüchtlinge und bei der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen noch Änderungen durchsetzen lassen, ist fraglich.
Die parteiinternen Gegner einer Großen Koalition kündigten an, in ihrem Kampf nicht lockerzulassen. Allen voran Kevin Kühnert, der immer mehr zur Ikone der Anti-GroKo-Bewegung und damit zum Albtraum von Martin Schulz wird. Der Bundesvorsitzende der Jusos hatte in Bonn einen umjubelten, der Parteispitze gegenüber respektlosen Auftritt hingelegt – und sich damit in Teilen der Partei nur noch mehr Respekt verschafft. Viele trauen dem 28-jährigen Berliner eine steile Karriere zu. Ein anderer prominenter Jungsozialist aber ist mit einer Idee, wie die GroKo doch noch verhindert werden könnte, nach Meinung hochrangiger Parteigenossen weit über das Ziel hinausgeschossen. Frederick Cordes, Juso-Chef in der SPD-Herzkammer Nordrhein-Westfalen, ruft dazu auf, in die SPD einzutreten, nur um beim Mitgliederentscheid einen Koalitionsvertrag abzulehnen. Eine zweimonatige Mitgliedschaft koste schließlich nur zehn Euro, so Cordes, der eine möglichst bundesweite Kampagne unter dem Motto „ein Zehner gegen die GroKo“ankündigt. Ein erfahrener Parteitaktiker ist entsetzt: „Was ist denn, wenn auch AfD-Sympathisanten diese Möglichkeit nutzen, mit einem Kurzzeit-Parteibuch eine Große Koalition zu verhindern?“Selbst ausgewiesenen GroKo-Skeptikern wie dem Sprecher der skeptischen Parlamentarischen Linken der SPD-Fraktion, Matthias Miersch, und Kevin Kühnert geht die Aktion zu weit: „Wir wollen Neumitglieder werben, die aus Überzeugung in die SPD eintreten, weil sie unsere Grundwerte teilen“, sagte Kühnert. Nach SPD-Angaben haben seit Sonntag bereits 1500 Menschen einen Mitgliedsantrag gestellt.
AfD-Anhänger haben jetzt eine ebenso einmalige wie billige Möglichkeit, der ihnen verhassten „Flüchtlingskanzlerin“eins auszuwischen und eine weitere Große Koalition der „Systemparteien“zu verhindern. Für nur zehn Euro, darauf weist ausgerechnet Frederick Cordes, Chef des mächtigen nordrhein-westfälischen Juso-Landesverbandes, hin, können nämlich alle GroKo-Gegner eine zweimonatige SPD-Mitgliedschaft erwerben. Damit haben sie dann das Recht, beim anstehenden Mitgliederentscheid der SPD eine Regierungsbildung zu verhindern.
Die Jusos kritisieren bekanntlich die in der Sondierung vereinbarte Flüchtlingspolitik als „unmenschlich“. Dass auch Leute, die finden, Deutschland solle überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen, seiner Einladung zur Kurz-Mitgliedschaft folgen könnten, scheint den OberJuso nicht zu kümmern. Erste SPDLandesverbände melden schon gestiegene Eintrittszahlen. Doch durch die dummdreiste Juso-Aktion bekommt das Ganze jetzt einen absolut faden Beigeschmack.