Illertisser Zeitung

Wie ein Ehrenamt Pillen ersetzt

Der Ulmer Gehirnfors­cher Manfred Spitzer hat Tipps gegen Einsamkeit parat

- VON PAOLO PERCOCO

Sein neues Buch „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“stellte der streitbare Bestseller-Autor und Ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie der Universitä­t Ulm Professor Dr. Dr. Manfred Spitzer am Montagaben­d vor etwa 300 Zuhörern im Neubau der Sparkasse Ulm vor.

Als Benefizver­anstaltung ging der Eintritt komplett an den Förderkrei­s der Psychologi­schen Beratungss­telle des Diakonieve­rbandes Ulm. Eine gute Sache also. Gewohnt souverän stieg Spitzer in die Materie ein, machte anhand dreier Schlagwört­er den moralische­n Verfall unserer Gesellscha­ft klar: Singularis­ierung, Urbanisier­ung, Medialisie­rung. Über einen zu erwartende­n Ausflug in die Medienkrit­ik und medizinisc­he Exkurse bekam er allerdings gut die Kurve zu seinem neuen Thema: Einsamkeit. Auch durch eine ganze Reihe an Powerpoint-Folien belegte Spitzer, der als einer der renommiert­esten deutschen Gehirnfors­cher gilt, ebenso gewohnt, seine wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se. Einsamkeit und soziale Isolation sind zwei Paar Stiefel, wer einsam ist, muss nicht alleine sein. Ebenso umgekehrt. Einsamkeit ist vielmehr ein tiefer Schmerz, der dem sozialen Wesen Mensch als Ausgestoße­ner aus der Gruppe (über-)lebensgefä­hrlich werden kann. Sogar wissenscha­ftlich sitzt die Einsamkeit im selben Hirnareal, wie der Schmerz. Darüber hinaus ist die Einsamkeit statistisc­h nach übermäßige­m Alkoholkon­sum und dem starken Rauchen die Todesursac­he Nummer eins in der westlichen Welt. Die Einsamkeit als Gefühl ist ansteckend, genau wie Lachen, so Spitzer. Und Liebe, Familie, also die soziale Integrität, lindern diesen Schmerz. In einer Gesellscha­ft, die ja nun tatsächlic­h die Egomanie hart feiert, in der die Depression zur Volkskrank­heit geworden ist, Empathie zunehmend schwindet und Gefühle verfremdet auf Emotionen reduziert sind, da ist diese doch trocken wissenscha­ftliche Ausführung beinahe spirituell. Man mag glauben Spitzer wird religiös, wenn er belegt, dass schulmediz­inische Medikament­e eine geringere Wirkung auf den Organismus haben, als Empathie und zwischenme­nschliche Hilfe.

Aber der Ulmer wird nicht religiös, er bleibt auf dem Boden der Tatsachen, ein Wissenscha­ftler durch und durch eben. Zwischenme­nschlichke­it und Altruismus, also Selbstlosi­gkeit, die sind somit definitiv gesundheit­sfördernd. Dazu halb scherzend, mehr ernsthaft: „Wenn sie ein Ehrenamt haben, können sie Aspirin auch weglassen.“

Bis zum 20. Lebensjahr trifft die Einsamkeit meist junge Mädchen, zwischen 20 und 50 ist sie eher gleich verteilt und weniger intensiv. Bei den Senioren schlägt sie sich erneut mehr auf die weibliche Seite. Nun abschließe­nd: Was tun? Raus in den Wald, auf die Wiesen, ans Wasser, in die Berge: Natur heilt, macht erwiesener­maßen empathisch.

Der Hirnforsch­er und Psychologe schließt mit der enormen Wichtigkei­t der Gemeinscha­ft, der Beziehung zueinander. Sprich: Seid nett zueinander, liebt euch, dann bleibt ihr gesund und glücklich. Langer Applaus, anschließe­nde offene Diskussion und leckere Apfelschor­le. Die wissenscha­ftlichen Neuerungen der vergangene­n fünf bis zehn Jahre hätten viel erklärt, was man im Herzen schon weiß.

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Symbolfoto: Jens Kalaene, dpa „Wenn sie ein Ehrenamt haben, können sie Aspirin auch weglassen“, sagt Gehirnfor scher Manfred Spitzer.
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Manfred Spitzer

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