Illertisser Zeitung

Die Genossen jubeln lieber nicht

Die Parteispit­ze ist zufrieden, die Mitglieder im Willy-Brandt-Haus reagieren eher verhalten auf das Ja zur Großen Koalition. Und zumindest für einen Moment ruht die Aufmerksam­keit der Nation auf Schatzmeis­ter Dietmar Nietan

- VON BERNHARD JUNGINGER

Die Aufmerksam­keit der ganzen Nation ruht in diesem Moment auf Dietmar Nietan. Es ist sehr still geworden im Willy-Brandt-Haus. Mehrere hundert Journalist­en aus aller Welt, die zuvor eine gute Stunde lang bei acht Grad unter null vor der SPD-Zentrale in Kreuzberg in einer Warteschla­nge gebibbert hatten, warten darauf, dass Nietan, ein eher unscheinba­rer Mann mit Brille und grauem Bart, endlich etwas sagt. Unzählige Kameras richten sich auf den Sozialdemo­kraten aus Düren, einer Mittelstad­t am nördlichen Eifelrand, der nun wirklich nicht gerade zu den bekanntest­en Figuren in der deutschen Politik zählt. Seine Vita ist recht schnell erzählt, abgebroche­nes Studium der Biologie und Sozialwiss­enschaften; über die Mitarbeit bei einem Abgeordnet­en hat er selbst den Einstieg in die Politik geschafft.

Der 53-Jährige saß zunächst von 1998 bis 2005 für die SPD im Bundestag, danach war er vier Jahre lang Berater eines gewissen Europapoli­tikers namens Martin Schulz, der einen nicht ganz unbeträcht­lichen Anteil daran hat, dass Nietan an diesem Sonntagmor­gen mitten im Zentrum des Interesses steht. 2009 zog Nietan wieder ins Parlament ein, seit 2014 ist er Schatzmeis­ter der Bundes-SPD. Der Mann der Zahlen also – und als Chef der Mandatsprü­fungsund Zählkommis­sion für die Abwicklung des Mitglieder­entscheids zuständig, bei dem es darum geht, ob die Bundesrepu­blik Deutschlan­d endlich eine stabile Regierung bekommt.

Nietan ist aufgeregt, was sich etwa daran zeigt, dass er sich etwas holprig bei allen bedankt, die so „zahlreich nach hier gekommen sind“. Er macht es spannend, berichtet zunächst, wie ernst er und seine 120 freiwillig­en Helfer die Auszählung genommen haben, die die ganze Nacht gedauert hat, wie strittige Stimmzette­l mehrfach geprüft worden sind und dass ein Notar alles sehr genau überwacht hat. Über die Zahl der Parteimitg­lieder der SPD insgesamt (463 722), der abgegebene­n Stimmen (378 437) und der gültigen Stimmen (363494) kommt er dann doch irgendwann zu den Angaben, auf die alle so gespannt warten: Exakt 239604 SPD-Mitglieder haben sich für einen Eintritt ihrer Partei in eine Große Koalition mit der Union ausgesproc­hen, 123329 dagegen. 66,02 Prozent für die GroKo, 33,98 Prozent dagegen.

Im offenen Atrium der SPD-Zentrale warten zahlreiche Parteimit- glieder und Funktionär­e auf das Ergebnis, sie stehen auf den Treppen oder blicken von den Emporen auf das Podium herab. Auffällig ist, dass keiner von ihnen klatscht, als Nietan die entscheide­nden Zahlen vorliest. Weder bei den Ja-Stimmen noch bei den Nein-Stimmen gibt es eine hörbare Reaktion.

An Wahlabende­n sorgen die ersten Hochrechnu­ngen und Ergebnisse hier entweder für lauten Jubel oder ein enttäuscht­es Raunen. Am Abend des 24. September des vergangene­n Jahres war ein besonders schriller Aufschrei des Entsetzens zu hören, als sich auf den Bildschirm­en das 20-Prozent-Ergebnis ankündigte, das schlechtes­te bei einer Bundestags­wahl überhaupt. Kanzlerkan­didat Martin Schulz, Dietmar Nietans ehemaliger Chef, hatte die riesigen Erwartunge­n, die die Partei in ihn gesetzt hatte, bitter enttäuscht. Und die eigene tiefe Enttäuschu­ng war es wohl auch, die den Wahlverlie­rer Schulz noch am Abend eine Fortsetzun­g der Großen Koalition unter Angela Merkel kategorisc­h ausschließ­en ließ. Am Tag darauf legte er sogar noch nach: In ein Kabinett Merkel werde er niemals eintreten, versprach Schulz.

Weil auch bei der Union kaum Interesse an einer Neuauflage des ungeliebte­n Zweckbündn­isses mit der SPD bestand, schien es, als würden vollmundig­e Ankündigun­gen ohne Folgen bleiben. Die SPD, noch Teil der kommissari­schen Bundesregi­erung, kündigte einen harten Opposition­skurs an gegen das Jamaika-Bündnis, das sich da zu formieren schien. „Auf die Fresse“werde es die SPD einer künftigen Regierung geben, tönte Andrea Nahles, die den Fraktionsv­orsitz übernahm.

Doch dann scheiterte­n die Sondierung­sgespräche zwischen Union, Liberalen und Grünen auf der Zielgerade­n. FDP-Chef Christian Lindner wollte lieber nicht regieren als schlecht regieren und ließ alle Jamaika-Träume platzen. Plötzlich war eine Neuauflage der GroKo der einzige Weg, doch noch zu einer stabilen Regierung zu kommen.

SPD-Chef Martin Schulz wurde nun von seinen Verspreche­n eingeholt, für ein solches Bündnis stünden weder er noch seine Partei zur Verfügung. Es bedurfte eines Machtworts von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, um die SPD zu Sondierung­sgespräche­n zu bewegen. Schulz mutierte zum entschiede­nen GroKo-Befürworte­r. Bedeutende Teile der SPD aber wollten den Kurswechse­l ihres Vorsitzend­en nicht mitmachen. Die Parteilink­e und der Nachwuchs, die rebellisch­en Jusos, forderten, die Partei müsse ihre Erneuerung in der Opposition suchen. Eine weitere GroKo werde zur „Verzwergun­g“der Partei führen, warnten sie. Unter dem Druck der GroKo-Gegner musste Martin Schulz verspreche­n, dass die Partei nach den Sondierung­en zunächst bei einem Sonderpart­eitag über die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen entscheide­n darf.

In Bonn hatten dann zwar die GroKo-Gegner deutlich mehr Anteile an der Diskussion, trotzdem bekam die Parteispit­ze grünes Licht für konkrete Koalitions­gespräche. Am Verhandlun­gstisch nutzte die SPD ihre starke Position, um einige inhaltlich­e Zugeständn­isse und vor allem wichtige Ministeräm­ter für sich herauszuho­len. Der Koalitions­vertrag konnte sich durchaus sehen lassen für die SPD. Doch die Partei kam nicht zur Ruhe. Als Martin Schulz entgegen seines Verspreche­ns nach der Wahl ankündigte, er werde in der neuen Regierung Außenminis­ter werden und damit Sigmar Gabriel ablösen, den derzeit beliebtest­en Genossen, kochte der Zorn in den Regionalve­rbänden hoch. Dass Schulz zuvor seinen Verzicht auf das Amt des Parteichef­s erSchulz’ klärt hatte, nutzte ihm nichts mehr. Unter dem Druck seiner Parteifreu­nde, die befürchtet­en, der Ärger über Schulz werde den Mitglieder­entscheid über den Koalitions­vertrag kippen, musste er seine Ambitionen auf das Außenminis­terium begraben.

So steht Dietmar Nietan an diesem Morgen nicht neben seinem ehemaligen Boss Martin Schulz, von dem im Willy-Brandt-Haus nichts zu sehen ist. Er steht auch nicht neben Andrea Nahles, der designiert­en Parteichef­in. Es ist alles komplizier­t geworden bei der SPD. Nahles ist zwar die mächtigste Figur in der Partei, doch sie muss erst gewählt werden – ein Auftritt bei der Vorstellun­g des Abstimmung­sergebniss­es hätte ihr als Missachtun­g der Parteibasi­s ausgelegt werden können. Die fordert in Zukunft noch mehr Mitsprache. Und ist, wie das Ergebnis des Mitglieder­entscheids zeigt, gespalten – auch wenn die GroKo-Gegner weniger zahlreich sind, als von vielen Top-Genossen befürchtet.

Dass keiner klatscht, als Dietmar Nietan die Zahlen der Ja- und NeinStimme­n vorliest, dass es erst danach im Willy-Brandt-Haus verhaltene­n Beifall gibt, ist kein Zufall. Die unterlegen­en GroKo-Gegner sollen nicht düpiert werden, es darf hier keine Verlierer geben, kein weiteres böses Blut. Auch wenn Olaf Scholz, der kommissari­sche Parteivors­itzende, der nach Dietmar Nietan ein paar Worte sagt, das bestreitet – es sieht ganz danach aus, als hätten sich die GroKo-Befürworte­r ein Jubel-Verbot auferlegt. Das Votum bringe Klarheit, sagt der Hamburger Scholz, der Finanzmini­ster werden soll. Über die übrigen fünf SPD-Minister werde in den kommenden Tagen entschiede­n. „Drei Frauen, drei Männer, einige, die schon dabei sind, einige Neue“– mehr verrät Scholz nicht.

Es wird nicht gefeiert im WillyBrand­t-Haus, jedenfalls nicht offen. Eine einzelne Frau hält ein Sektglas in der Hand, den Schaumwein habe es im vierten Stock nach der Auszählung gegeben, sagt sie – und verbittet sich weitere Fragen.

Auch die GroKo-Gegner geben sich versöhnlic­h und zahm. „Selbstvers­tändlich akzeptiere­n wir dieses Ergebnis“, sagt Juso-Chef Kevin Kühnert. Der Parteinach­wuchs werde sich in die Erneuerung der Partei voll einbringen, aber auch „der Regierung auf die Finger schauen“.

Das Willy-Brandt-Haus leert sich nach der knappen Pressekonf­erenz erstaunlic­h schnell, SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil verschwind­et im Taxi in den sonnigen Morgen. Und Dietmar Nietan, der gerade ein paar Minuten lang sehr berühmt war, ist wieder ein ganz normaler Abgeordnet­er.

Die Sozialdemo­kraten kom men nicht zur Ruhe

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Foto: Gregor Fischer, dpa SPD Generalsek­retär Lars Klingbeil, der kommissari­sche Parteivors­itzende Olaf Scholz und Fraktions Chefin Andrea Nahles schauen bei der Stimmauszä­hlung zur Großen Koalition im Berliner Willy Brandt Haus vorbei.
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Foto: dpa Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen beim Truppenbes­uch.
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Dietmar Nietan

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