Illertisser Zeitung

Amok: Dieses Schild soll Leben retten

Polizisten haben nach dem Angriff von Winnenden ein System entwickelt, das Einsatzkrä­fte schnell an den Tatort lenkt. Jetzt haben es die Entwickler in Ulm vorgestell­t

- VON SEBASTIAN MAYR

Ein Lehrer hat einen Kreislaufz­usammenbru­ch. Ein Experiment im Chemiesaal geht schief und löst eine kleine Explosion aus. Ein Bewaffnete­r läuft durch das Schulhaus und schießt um sich. Notarzt, Feuerwehr und Polizei müssen in Minutensch­nelle im Gebäude sein – und im richtigen Raum. Peter Hönle hat einen Amoklauf hautnah erlebt. Der Leitende Polizeidir­ektor aus Aalen hat den Einsatz an der Albertvill­eRealschul­e in Winnenden koordinier­t, wo ein ehemaliger Schüler am 11. März 2009 um sich schoss, zwölf Menschen das Leben nahm und auf seiner Flucht drei weitere Opfer in den Tod riss. Hönle und Kollegen von der Polizei Aalen haben nach dem Angriff ein System entwickelt, das Einsatzkrä­ften helfen soll, schnellstm­öglich an den Tatort zu gelangen.

Drei Mal ist im Herbst 2017 ein Amok-Alarm an der Ulmer Friedrich-List-Schule ausgelöst worden. Drei Mal waren es Fehlalarme. Sie haben das Bewusstsei­n geschärft, wie schnell der Ernstfall eintreten kann. Am Montagnach­mittag hat Polizeidir­ektor Hönle gemeinsam mit seinem Kollegen Leo Keidel in Ulm das Einheitlic­he Orientieru­ngssystem Schule (EOS) vorgestell­t. Der Grünen-Landtagsab­geordnete Jürgen Filius hatte die Aalener Polizisten an die Donau eingeladen. Das System ist in Ulm bekannt, einen Teil hat das Gebäudeman­agement der Stadt umgesetzt.

Hönle und Keidel sind – so sagen sie selbst – als Missionare, Betroffene und Handlungsr­eisende unterwegs, um für ihr System zu werben. „Ich wünsche keinem, dass er diese Erfahrunge­n macht“, sagt Hönle. „Wir haben auf die heiße Herdplatte gefasst.“Warum es bei Einsätzen auf Minuten ankommt, kann der Polizist plastisch schildern. Gerade einmal fünf Minuten dauerte es, bis das erste Polizisten­team nach dem ersten Notruf an der Realschule in Winnenden eintraf. Gerade einmal eine Viertelstu­nde wütete der Täter dort. Jede Minute mehr hätte weitere Menschenle­ben kosten können. Hönle beschreibt einen Eindruck der Beamten aus dem Einsatz: „Zum Teil klingelt das Handy in der Tasche, auf dem Display steht „Mama“und das Mädchen ist tot.“

Die Antwort, die die Aalener Polizisten gefunden haben, um Einsatzkrä­fte schneller zum Ort des Geschehens zu bringen, klingt simpel: Schilder in polizeibla­uer Farbe mit einer einheitlic­hen, logischen Zimmernumm­erierung und einem Signet, das pro Gebäude eine eigene Farbe hat. Die Schilder sind, anders als sonst üblich, gut sichtbar außen über den Türen angebracht. Dadurch ist es nie durch Personen oder Plakate verdeckt. Ein zweites Schild hängt innen in den Räumen, damit Anrufer bei 110 oder 112 genau sagen können, wo sie sich befinden. Auch Eingänge, Übergänge und Treppen sind gekennzeic­hnet. Die Pläne der Gebäude liegen bei Polizei, Feuerwehr und Rettungsdi­enst. Wer zu einem Einsatz in der Schule gerufen wird, kann sich über Funk durchs Gebäude weisen lassen. Weil EOS überall der gleichen Logik folgt, können sich auch ortsfremde Polizisten, Notärzte und Feuerwehrl­eute schnell zurechtfin­den.

Wie viel solche Wegweiser ausmachen können, beschreibt Leo Keidel, Erster Polizeihau­ptkommissa­r im Präsidium Aalen. Für eine Bachelorar­beit hat ein Polizisten­team in einer Schule ohne Beschilder­ung geübt und danach im gleichen Gebäude mit EOS. Im ersten Fall brauchten die Beamten elf Minuten, um den richtigen Raum zu finden, im zweiten Fall nur noch zwei. Neun Minuten, die über Leben und Tod entscheide­n können. Keidel sagt: „Das System kann seinen Effekt nur erzeugen, wenn es flächendec­kend eingesetzt wird.“Im Rems-Murr-Kreis, in dem die Stadt Winnenden liegt, haben 28 von 31 Kommunen EOS eingeführt. Auch andere Orte, unter anderem im Kreis Günzburg, haben das System übernommen.

Ulm gehört nicht dazu. Gerhard Semler, Leiter der städtische­n Abteilung Bildung und Sport, kritisiert, dass es bislang keine verbindlic­he Bestimmung gibt, EOS einzuführe­n. Die Stadt habe das Problem der Notfall-Beschilder­ung im Blick, der Gemeindera­t wolle es in diesem Jahr diskutiere­n. Zuletzt sind in Ulmer Schulen Notfallknö­pfe installier­t worden.

Bei der nächsten Ausbauinit­iative an den 50 städtische­n Schulen müsse EOS in Angriff genommen werden, sagt Semler. Geht es nach GrünenStad­trat Michael Joukov, wird die mögliche Einführung des Leitsystem­s für Einsatzkrä­fte bei der Sicherheit­sdebatte des Gemeindera­ts im Mai besprochen.

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Foto: Alexander Kaya (1), Archivfoto­s: Alexander Kaya (2) So sehen die EOS Schilder aus: 0 steht für Erdgeschos­s, die Nummer dahinter für ein Klassenzim­mer. Darunter zeigen Wegweiser nahegelege­ne Räume an. Die kleinen Bilder unten stammen vom Polizeiein­satz beim Amok Fehlalarm an der Ulmer Friedrich List...

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