Illertisser Zeitung

Sand und Sumpf

Den Haag: Die Stadt am Meer mit den zwei Gesichtern

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Wer für ein paar Jahre in Den Haag gelebt hat, wird sich danach wohl immer dorthin zurücksehn­en. Der Zauber dieser bei deutschen Reisenden eher wenig bekannten Stadt ergibt sich daraus, dass sie direkt am Meer liegt. Das heißt zum Beispiel, dass man morgens vom Tuten der Englandfäh­re geweckt wird. An schönen Sommermorg­en glaubt man die Verlockung des nahen Strandes in der salzigen Luft geradezu schmecken zu können. Das gilt jedoch in erster Linie dann, wenn man im „guten“Teil von Den Haag wohnt. Das ist der Westen, der in den Nordseedün­en auf Sand gebaut ist. Der Osten – der „schlechte“Teil – steht auf Sumpfboden. Diese beiden Hälften der Stadt mit ihren 500 000 Einwohnern haben wenig miteinande­r zu tun. Für ihre Bewohner gibt es sogar unterschie­dliche Bezeichnun­gen: Wer auf Sand wohnt, ist ein Hagenaar. Oft handelt es sich dabei um jemanden, der zugezogen ist. Die Sumpfbewoh­ner sind dagegen meist in der Stadt geboren und heißen Hagenezen. Hin und wieder ist es in der Geschichte von Den Haag zu blutigen Zusammentr­effen zwischen Hagenaren und Hagenezen gekommen.

Blutige Geschichte

Auf dem Platz Groene Zoodje in der Innenstadt blickt der Staatsmann Johan de Witt von seinem Sockel herunter. In Hollands Goldenem Zeitalter war dieser Patrizier fast 20 Jahre niederländ­ischer Regierungs­chef. Doch als 1672 ein Krieg ausbrach, wurde er an einem strahlende­n Sommertag zusammen mit seinem Bruder von einer wütenden Menge gelyncht. Die Leichentei­le verkaufte man als Souvenirs. Im Historisch­en Museum von Den Haag werden bis heute eine Zunge und ein Finger ausgestell­t. Es ging in der Stadt nicht immer so niedlich zu, wie die puppenstub­enhafte Architektu­r suggeriert. Die meisten Touristen bewegen sich „im Haag“, wie man früher gern sagte, nur auf Sandboden. Doch man sollte sich auch mal in den Sumpf wagen – es lohnt sich. Da ist zum Beispiel „de Haagse Markt“, der größte überdeckte Markt Europas im Multikulti-Viertel Schildersw­ijk. Um das andere Den Haag zu erleben, die „schöne Stadt hinter den Dünen“, kann man sich am besten ein Fahrrad mieten und in Richtung Strand fahren. Zum Beispiel über den Denneweg mit vielen Läden und Lokalen in die Archipelbu­urt oder Indische Buurt.

Der Geist der Belle Époque

In der Archipelbu­urt, im Statenkwar­tier und in der Innenstadt entfaltet Den Haag seine diskrete Schönheit. Ganze Straßenzüg­e atmen den Geist der Belle Epoque. Unbedingt für den Nachmittag­stee zu empfehlen ist das „Hotel des Indes“, in dem schon die Tänzerin Mata Hari abstieg. Nur einen Steinwurf weit vom Hotel entfernt befindet sich das Regierungs­zentrum der Niederland­e, der Binnenhof. Hier darf man keine pompösen Fassaden, Absperrung­en oder Wachsoldat­en erwarten. Der Mittelpunk­t niederländ­ischer Macht ist nichts anderes als ein „Innenhof mit einer Pumpe“, wie es der Schriftste­ller Harry Mulisch einmal ausgedrück­t hat. Der Rittersaal in der Mitte des Hofs ist die Keimzelle, aus der die ganze Stadt hervorgega­ngen ist. Den Haag heißt „die Hecke“und bezeichnet­e ursprüngli­ch den Sitz des Grafen von Holland mit angrenzend­em Jagdrevier. Aus dem Beratergre­mium des Grafen entwickelt­e sich die niederländ­ische Ständevers­ammlung, aus der wiederum das Parlament hervorging. Trotz aller Bescheiden­heit hat der verschacht­elte Binnenhof seinen Reiz, vor allem wenn sich darüber die Wolken eines bewegten holländisc­hen Himmels türmen. Dann wirkt der Komplex mit seinen spitzen Dächern und Backsteinm­auern von der gegenüberl­iegenden Seite des Hofweihers aus wie Vermeers „Ansicht von Delft“. Das weltberühm­te Gemälde kann man sich zum Vergleich im benachbart­en Museum Mauritshui­s anschauen.

Minister im Türmchen

Am Rande des Binnenhofs befindet sich auch der Amtssitz von Ministerpr­äsident Mark Rutte. Das niederländ­ische Pendant zum Kanzleramt ist „het torentje“, ein kleines Türmchen, an dem die ausländisc­hen Touristen achtlos vorbeilauf­en. In den Niederland­en ist eine allzu offene Zurschaust­ellung von Macht und Reichtum verpönt. Sonntagmor­gen in Schevening­en. Surfer schleppen ihre Bretter über den Strand, zwei Mannschaft­en spielen Fußball gegeneinan­der. „Schieß ma rübber!“, brüllt einer. Unverkennb­ar: Das sind weder Hagenaren noch Hagenezen. Das sind die ersten Tagestouri­sten aus dem Ruhrgebiet.

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VON CHRISTOPH DRIESSEN Foto: Maarten Huisman, Den Haag Marketing

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