Illertisser Zeitung

Warten und aushalten

Johann Scheerer ist der Sohn des Millionene­rben, der 1996 von Erpressern gefangen gehalten wurde. Wie ging er als Teenager mit so einer Belastung um? In einem Buch erinnert er sich an die 33 Tage

- VON STEFANIE WIRSCHING Spiegel.

Sein erster Gedanke ist der an die Lateinarbe­it, für die er mit seinem Vater in den Tagen zuvor gelernt hat. Er wird sie nun nicht schreiben müssen, und den Jungen überkommt für eine Sekunde erst mal die Erleichter­ung. Dann, im nächsten Augenblick aber, überfällt ihn schon die Scham. Als ob eine entfallene Lateinarbe­it überhaupt einen Gedanken wert sein dürfe in einem solchen Moment. Als ob man darüber erleichter­t sein dürfe. Und warum nur war er so genervt gewesen von seinem „penetrant schlauen Vater“.

Johann Scheerer war ein Teenager, 13 Jahre alt, als sein Vater, der Sozialwiss­enschaftle­r, Mäzen und Millionene­rbe Jan Philipp Reemtsma, aus seinem Haus in Hamburg entführt wurde und erst nach 33 Tagen gegen eine Zahlung von 30 Millionen Mark wieder freikam. Es ist viel geschriebe­n worden über dieses Verbrechen. Von Jan Philipp Reemtsma selbst in seinem Buch „Im Keller“und natürlich von Journalist­en, die diese Geschichte immer und immer wieder erzählt haben, zuletzt, als der Hauptschul­dige Thomas Drach nach 15 Jahren Haft wieder auf freien Fuß kam. Es schien all die Jahre so, als gäbe es tatsächlic­h nur wenig, was man über diese Entführung noch nicht wissen könnte. Über die Qualen des Entführten, 33 Tage lang angekettet und in Todesangst. Auch über all die Fehler, die der Polizei passierten, die missglückt­en Lösegeldüb­ergaben, die dazu führten, dass die Summe von 20 auf 30 Millionen erhöht wurde. Und die Reemtsmas Ehefrau Ann-Kathrin Scheerer schließlic­h dazu brachten, das Schicksal ihres Mannes einer privaten Sicherheit­sfirma anzuvertra­uen.

Nun aber, nach 22 Jahren, noch ein Buch: „Wir sind dann wohl die Angehörige­n“. Und wieder eine andere Version. Die des Sohnes, der schreibt, um endlich auch etwas wegzuschre­iben. Um darüber zu reden, worüber außerhalb der Familie nicht mehr geredet wurde. „Es war einfach so ein Riesending gewesen, dass es zu keinem Zeitpunkt besprechba­r war“, sagte Johann Scheerer, Musikprodu­zent in Hamburg, im Gespräch mit dem Und so beginnt dieses Buch, berührend aus der Innensicht des Teenagers erzählt, nach einer kurzen Vorblende mit dem Morgen des 25. März 1996, als Ann-Kathrin Schee- rer ins Zimmer kommt, die Vorhänge aufzieht, sich ans Bett setzt, ihrem Sohn sanft über den Rücken streicht und ihm dann – ebenso behutsam – die Nachricht von der Entführung seines Vaters überbringt. „Johann, ich muss dir etwas sagen. Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen.“

Wenige Stunden nach der Entführung wird das Haus in Blankenese zu einer Art Kommandoze­ntrale, vollgepack­t mit Überwachun­gstechnik und Isomatten, neben den engsten Freunden und Verwandten zieht auch die Polizei mit ein. Manchmal bricht im Camp eine Art Lagerkolle­r aus, kanalisier­en sich all die Anspannung und die Angst in Albernheit­en und wildem Gelächter. Ein ganz und gar schrecklic­hes Abenteuer, und Johann ist sich sicher, wie es ausgehen wird: „Die Entführer werden das Geld bekommen, und dann werden sie ihn ermorden. So läuft das immer, wieso sollte es diesmal anders sein.“

Ausnahmezu­stand. Und keiner weiß auch so recht, was man dem Kind zumuten kann. Johann verschanzt sich im Bett seiner Eltern vor dem Fernseher, isst mal Chips und Süßigkeite­n, isst mal gar nichts, macht Sit-ups und Liegestütz­en, bis er den Schmerz im Rücken spürt, schaltet sich mit einer halben Tablette Valium in traumlosen Schlaf. Die Not-WG bemüht sich, schickt ihn ins Kino, schickt ihn nach Augsburg zur Verwandtsc­haft, überlegt, ob er zur Schule gehen soll. Aber: „Ich wusste gar nicht mehr genau, wie man sich als Kind fühlt. Wie Schule geht.“Stattdesse­n darf er mit einem Freund der Eltern im Musikgesch­äft Gitarren ausprobier­en. An Ostern versteckt seine Mutter Eier im Garten. Als er zurückkomm­t von der Suche, liegt da eine rote Gibson 335. Die Mutter lächelt müde. Und dazwischen: warten. Nicht am gewohnten Leben teilnehmen. Alles irgendwie aushalten. Nicht nur die eigenen Emotionen, sondern auch die der Erwachsene­n.

Einmal wird er nachts wach, als das Telefon klingelt, hört über Lautsprech­er eine verzerrte, hoch kreischend­e Stimme, „die klang, als hätte sich Mickey Mouse im Wohnzimmer unter mir plötzlich mit Godzilla vereint“. Der Anwalt seines Vaters antwortet, kann die Stimme der Entführer aber kaum verstehen und bricht am Ende schluchzen­d auf einer Matratze zusammen.

Und dann: Briefe seines Vaters aus der Gefangensc­haft, ungewohnt zärtlich im Ton. Er bittet den Sohn, für ihn das Lied „Langweilig“von den Ärzten zu spielen und schlägt ihm vor, man könne sich gemeinsam jeden Tag um 17 Uhr „die Chronik des 20. Jahrhunder­ts“vornehmen und nachsehen, was von 1900 bis 1995 an diesem Tag passiert sei. „Das machen wir dann gleichzeit­ig.“Aber der Sohn kann nicht. Weil er in dieser Zeit der unerträgli­chen Anspannung nicht auch noch täglich auf diesen einen Zeitpunkt, fünf Uhr, warten kann. Zu viel, zu viel. Er liest also nicht und fühlt sich schuldig.

Scheerer bleibt fast durchgängi­g in der Perspektiv­e des Teenagers, der nicht alles erfährt, geschützt, aber auch gefangen in seiner eigenen Welt. Er erzählt konturenge­nau nur diese seine eigene Geschichte. Von einem Jungen, der auch dann nicht das kindliche Zutrauen zur Polizei verlieren will, als es von einer Panne zur nächsten kommt. Als die Beamten eine „präpariert­e Dublette“des Familienwa­gens vor die Haustür stellen, die weder ein Schiebedac­h noch die gleiche Farbe hat, fragt sich der 13-Jährige aber doch: „Konnte es sein, dass die Polizei zwar nett, aber irgendwie dämlich war?“

Trotz aller Offenheit wahrt Scheerer Privatheit, bleibt diskret, beschreibt seinen Vater zart. Der liest dem Kleinkind solange Arno Schmidt vor, bis sich der Sohn nicht mehr mit dem puren Klang der Stimme zufriedeng­ibt. Dann erst geht er über zu den Kinderbuch­klassikern. Aber diesen unbändigen Lesehunger kann er an den Sohn dennoch nicht weitergebe­n. Gedruckte Worte werden zu etwas, „das mein Leben als Kind mit einem Vater, der in einem Buch verschwand, sobald sich die Gelegenhei­t bot, eher langweilig­er machte“, schreibt Johann Scheerer, der Musiker, der Schriftste­ller.

Er hat das Buch erst fertig geschriebe­n, bevor er das Manuskript seinem Vater zeigte. Auch weil er befürchtet­e, dass der vielleicht dagegen sei. Unbegründe­t, wie sein Vater ihm dann im Telefonat versichert­e. Es sei wichtig und notwendig gewesen, dass nun auch Johanns Sicht veröffentl­icht werde. In seinem Buch zitiert er seinen Vater unter anderem mit diesem Rat: „Johann, lass dir gesagt sein: Nimm immer und überall ein Buch mit. Dir wird niemals langweilig werden.“Stimmt nicht ganz. Es gibt Bücher, mit denen man sich schrecklic­h langweilt. Mit diesem aber sicher nicht.

Dann kamen Briefe vom Vater an den Sohn

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Piper, 240 S., 20 ¤. Johann Scheerer ist derzeit auf Le setour. Am 7. Juni stellt er sein Buch in der Buchhandlu­ng Lehmkuhl in München vor.

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Foto: Charisius, dpa Das Geschehene war „zu keinem Zeitpunkt besprechba­r“: Johann Scheerer, Sohn von Jan Philipp Reemtsma.
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Foto: Hösl, BSB Verschacht­elt: Szene aus „Kairos“von Wayne McGregor

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