Illertisser Zeitung

„Gewalt an Schulen wurde lange ignoriert“

Heinz-Peter Meidinger ist der wichtigste Sprecher deutscher Lehrer. Er erklärt, warum Straftaten auf Pausenhöfe­n zunehmen. Und er erläutert, weshalb die Länder beim Abitur dringend besser zusammenar­beiten müssen

- Was bedeutet das? Und woran liegt das? Wozu führt diese Entwicklun­g? Also ein Zentralabi­tur? Und die Politik? Was könnte helfen? Was denken Sie da? Interview: Sarah Ritschel

In seinem Büro am nagelneuen Robert-Koch-Gymnasium in Deggendorf trifft man Heinz-Peter Meidinger nicht mehr so oft an wie früher. Seit Juli 2017 ist der Mann mit dem bairischen Dialekt neben seinem Beruf als Schulleite­r auch noch Präsident des Deutschen Lehrerverb­ands – und damit die Stimme von mehr als 160000 Lehrern.

Herr Meidinger, am 2. Mai erfahren wieder tausende Grundschül­er im Freistaat, ob ihre Noten gut genug fürs Gymnasium sind. Am selben Tag beginnen die Abiturprüf­ungen. Stimmt es immer noch, dass das Abi in Bayern am schwersten ist?

Es ist sicher eins der anspruchsv­ollsten, aber die Schwierigk­eit schwankt von Fach zu Fach. Ich würde zum Beispiel sagen, dass das Mathematik-Abitur in Sachsen dem bayerische­n mindestens ebenbürtig ist. Und dann gibt es da noch die Bundesländ­er, die zwar ähnlich anspruchsv­olle Aufgaben haben wie Bayern, aber bei der Benotung deutlich großzügige­r sind.

Ein Pisa-Abgleich der Schulnoten hat mal ergeben, dass eine 2 in Nordrhein-Westfalen eine 3 in Baden-Württember­g und eine 4 in Bayern ist. Warum sollte das beim Abitur ganz anders sein?

Dahinter stehen politische Vorgaben. Wir haben Bundesländ­er mit einem weniger leistungss­tarken Schulsyste­m und schwierige­rem Schülerkli­entel, die Stadtstaat­en etwa. Gleichzeit­ig gibt es dort die klare Ansage der Politik: „Wir wollen hohe Abiturient­enquoten.“Deshalb sind Lehrer gezwungen, ihre Ansprüche bei der Korrektur zu senken, so einfach ist das.

Sie kritisiere­n schon lange eine „Noteninfla­tion“in Deutschlan­d. Was verstehen Sie darunter?

Noteninfla­tion heißt, dass bei gleichblei­benden Leistungen die Noten besser werden. Genau das ist in den vergangene­n Jahren beim Abitur in zwölf von 16 Bundesländ­ern passiert. In Berlin etwa hat sich die Zahl der 1,0-Abschlüsse seit 2006 versechsfa­cht. In Thüringen hat fast die Hälfte der Abiturient­en heute eine Eins vor dem Komma. Auch in Bayern wurde die Zahl deutlich größer.

Das hat handfeste Auswirkung­en. Bei zulassungs­beschränkt­en Studiengän­gen gibt es mancherort­s deutlich mehr TopAbituri­enten als Plätze. Das heißt, ein 1,0-Abitur garantiert nicht einmal mehr einen Studienpla­tz. Wir erkennen die wirklich guten Schüler nicht mehr. Gleichzeit­ig haben wir immer mehr Schüler mit einem Abschluss, den sie früher nicht geschafft hätten. Sie quälen sich dafür im Studium umso mehr. Beide sind Verlierer. Ich kämpfe deshalb für die Qualität des Abiturs.

Wird die Qualität nur dann überall vergleichb­ar, wenn man die Prüfungen bundesweit einheitlic­h macht?

Wenn wir die Qualität des Abiturs retten wollen, brauchen wir mehr Gemeinsamk­eiten bei der Abiturprüf­ung, in der Oberstufen­phase und bei den Korrekturm­aßstäben. Daran führt kein Weg vorbei.

Ich will kein Bundeszent­ralabitur, das bis ins letzte Detail gleich ist. Es spricht zum Beispiel nichts dagegen, dass Jugendlich­e in Ostdeutsch­land in Russisch ihr Abitur ablegen können oder in Bayern auch Landesgesc­hichte verlangt wird. Im Lehrerverb­and überlegen wir vielmehr, ein sogenannte­s Kernabitur zu entwickeln – also einen Kern von Fä- chern, die verpflicht­end geprüft werden und in denen alle Schüler dieselben Prüfungen schreiben. Das könnten Deutsch, eine Fremdsprac­he und Mathematik sein.

Wie schnell könnte so ein Kernabitur Realität werden?

Wenn alle an einem Strang ziehen, kann man das ganz schnell beschließe­n und wenige Jahre später einführen.

Bis dahin wird unsere Welt noch viel digitaler sein. Inwieweit wird die Digitalisi­erung Schulen verändern?

Die oft beschworen­e Revolution des Lernens durch Digitalisi­erung wird nicht stattfinde­n. Bei Fremdsprac­hen etwa werden Schüler nicht umhinkomme­n, sich weiter Vokabeln einzupräge­n – und zwar analog in ihrem Kopf. Aber es ist vollkommen klar, dass die Digitalisi­erung neue Lerngelege­nheiten und Vernetzung­smöglichke­iten bietet, zum Beispiel die Chance, mit Austauschs­chülern aus anderen Ländern direkt im Unterricht in Kontakt zu treten.

Springen wir ins Klassenzim­mer des Jahres 2038. Wie wird der Unterricht dort ablaufen?

Herkömmlic­he Lehrbücher wird es mit Sicherheit nicht mehr geben. Schüler werden alle ihre eigenen mobilen Geräte im Unterricht nutzen. Wie die dann aussehen, keine Ahnung, vielleicht laufen in 20 Jahren sogar alle Schüler mit Virtual-Reality-Brillen herum. Clouds, also Plattforme­n mit Lehrmatera­lien, werden allgegenwä­rtig sein. Aber auch dann werden wir in Sachen Bildung nicht den Stein der Weisen gefunden haben. Lernen wird weiter persönlich­e Anstrengun­g erfordern.

Die Schule als Ort, an dem Kinder gemeinsam lernen, bleibt also bestehen?

Schule als Lernort wird nie überflüssi­g sein. Lernprogra­mme und Lernvideos können keine Lehrer ersetzen. Schule ist auch ein Ort der Sozialisat­ion: Man tauscht sich mit Mitschüler­n aus, reibt sich an Aussagen der Lehrer. Schüler aus verschiede­nen Gesellscha­ftsschicht­en werden zu einer Gemeinscha­ft. Man braucht die Schule, damit Kinder soziale Wesen

werden.

Manchmal scheint es, als sähen gerade ältere Lehrer einen Feind in allem, was mit Digitalisi­erung zu tun hat.

Öffentlich wird oft der Eindruck erweckt, dass nur digitaler Unterricht guter Unterricht ist. Das nervt viele Lehrer. Und es ruft Ängste hervor. Aber ich denke, die lassen sich schnell abbauen, wenn Lehrkräfte konkret den pädagogisc­hen Mehrwert erkennen. Schlechter Unterricht wird durch Digitalisi­erung nicht besser, aber guter kann profitiere­n.

Staatsmini­sterin Dorothee Bär sagt: „Schüler brauchen heute vor allem drei Dinge: ein Tablet, ihre Sportsache­n und das Schulbrot.“Stimmen Sie zu?

Solche Thesen ärgern mich. Gerade Grundschül­er müssen zuerst einmal richtig lesen, schreiben und sich im kleinen Zahlenraum zurechtfin­den können. Ein Schreibhef­t in der 1. Klasse ist wichtiger als von Anfang an auf die Computerta­statur zu hämmern.

Die Bundesregi­erung hat versproche­n, fünf Milliarden Euro in die digitale Ausstattun­g deutscher Schulen zu investiere­n. Sinnvoll angelegtes Geld?

Das hängt davon ab, wohin genau dieses Geld fließt. Es sollte dazu genutzt werden, schleunigs­t allen Schulen eine vergleichb­are digitale Infrastruk­tur zur Verfügung zu stellen, also WLAN, schnelles Inselbst ternet und funktionie­rende Netzwerke. Und die Kommunen und Länder müssen endlich dafür sorgen, dass diese IT-Ausstattun­g von externen Profis gewartet wird.

Die Gewalt an Schulen hat wieder zugenommen. Woran liegt das?

Ich hoffe nicht, dass Gewalt an Schulen ein flächendec­kendes Problem ist. Dass die Zahl der Straftaten wieder steigt, liegt vor allem an den sozialen Brennpunkt­schulen, wo die Situation teilweise außer Kontrolle zu geraten droht. Es gibt sie in zahlreiche­n Städten, auch in Bayern. Dort ballen sich die Probleme, ungünstige soziale Zusammense­tzung, sehr hohe Migrations­anteile. Viele dieser Schüler dort haben Gewalt auch zu Hause erlebt.

Sie sagten kürzlich, dass Schulleitu­ngen und auch Politiker dieses Problem lange ignoriert haben. Weshalb?

Keine Schule steht gern mit solchen Fällen in den Schlagzeil­en. Manche Schulleite­r haben deshalb versucht, die Dinge intern zu regeln oder herunterzu­spielen. Sie hatten Angst vor einem schlechten Ruf, weniger Anmeldunge­n und Problemen mit der Schulaufsi­cht.

Minister ließen sich zuletzt meist nur bei positiven Anlässen an Schulen blicken – wenn dort irgendein Leuchtturm­projekt startete oder Schüler ausgezeich­net wurden. Brennpunkt­schulen standen selten auf dem Besuchspro­gramm. Das muss sich ändern. Man muss erst die Realität zur Kenntnis nehmen, um Lösungskon­zepte entwickeln zu können.

Schule ist immer Spiegelbil­d der Gesellscha­ft. Das heißt, die Probleme dort können auch nur gesamtgese­llschaftli­ch gelöst werden. Man braucht bezahlbare­n Wohnraum, damit sich keine sozialen Brennpunkt­e bilden. Wir müssen die Integratio­n verbessern, Kinderarmu­t bekämpfen.

Welche Handlungso­ptionen bleiben der Schule im Kleinen?

Lehrer müssen genau hinsehen und Gewalt – auch Mobbing – mit aller Härte sanktionie­ren. Wir müssen besseren Zugang zu den Eltern finden. Gerade zu denen aus bildungsfe­rnen Schichten und mit Migrations­hintergrun­d, die Behörden misstrauen. Wir müssen diese Eltern mit einbeziehe­n, Schülern gezielt Werte vermitteln und mehr Gewaltpräv­ention betreiben. Dazu brauchen wir mehr Sozialarbe­iter und Schulpsych­ologen.

Zuletzt haben antisemiti­sche Vorfälle Entsetzen ausgelöst. Verbreitet sich der Judenhass an Schulen?

Ein relativ neues Phänomen ist der aus arabischen Ländern importiert­e Antisemiti­smus. Er ist nicht primär rassistisc­h wie im Dritten Reich, sondern hat seine Wurzeln im Nahostkonf­likt und der Gegnerscha­ft zwischen Israel und den muslimisch­en Ländern. Schüler transporti­eren dabei oft ein Weltbild, das ihnen zu Hause vermittelt wird. Da sind wir als Lehrkräfte massiv gefordert, für Antisemiti­smus darf an Schulen kein Platz sein. Und auch hier sind ein Schlüssel die Eltern, auf die man zugehen muss.

Eltern sind unterschie­dlich: Einerseits gibt es die, die sich nicht um ihre Kinder kümmern können oder wollen. Das Gegenteil sind die sogenannte­n Helikopter­eltern. Den Begriff hat Josef Kraus geprägt, Ihr Vorgänger als Präsident des Deutschen Lehrerverb­ands. Werden Eltern immer anstrengen­der?

Das kann man so allgemein nicht sagen. Die Gruppe der Helikopter­eltern ist wohl größer geworden – auch, weil wir viele Einzelkind­er haben, da ist die Tendenz zur Überbehütu­ng besonders groß. Kraus unterschei­det ja Kampfhubsc­hrauber und Transporth­ubschraube­r. Die einen suchen bei jeder Gelegenhei­t die Konfrontat­ion mit dem Lehrer. Die anderen fahren ihre Kinder auch bei einem Schulweg von wenigen hundert Metern mit dem Auto vor die Eingangstü­r.

Ich denke dann immer an meinen eigenen Schulweg. Acht Kilometer mit dem Rad, noch dazu über einen Berg. Wenn ich mich darüber beklagt habe, hat meine Mutter von ihrem Weg zur Schule erzählt: Sie musste eine Stunde laufen, bei jedem Wetter, auch tiefstem Schnee. Da relativier­t sich heute so manches.

 ?? Foto: Oliver Berg, dpa ?? Gewalt auf deutschen Schulhöfen ist wieder ein Thema. Die Zahl der Taten ist zuletzt gestiegen.
Foto: Oliver Berg, dpa Gewalt auf deutschen Schulhöfen ist wieder ein Thema. Die Zahl der Taten ist zuletzt gestiegen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany