Illertisser Zeitung

„Ohne den Faktor Bayern kaum erklärbar“

Der Historiker Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschi­chte erklärt die Verbindung zwischen dem Freistaat und dem Nationalso­zialismus. Zugleich warnt er vor dem Rechtspopu­lismus der Gegenwart

- Und heute? Interview: Angela Bachmair

Bayern und der Nationalso­zialismus – dazu fallen einem viele Orte ein: Dachau, Flossenbür­g und Kaufering, der Berghof, Landsberg und München natürlich, die „Hauptstadt der Bewegung“. Eine bedrückend dichte Konzentrat­ion. Ist Bayern nationalso­zialistisc­h kontaminie­rt?

Die Entstehung und der frühe Erfolg des Nationalso­zialismus sind ohne den Faktor Bayern kaum erklärbar. München ist ein Sonderfall extremer Aufschauke­lung und ständiger Radikalisi­erung, schon ab November 1918. Die Räterepubl­ik und die diffuse Angst vor dem Umsturz gaben dem brutalen Antibolsch­ewismus und Antisemiti­smus in beträchtli­chen Teilen des Bürgertums einen großen Schub.

War es Zufall, dass Hitler gerade in München Erfolg hatte?

Voraussetz­ungslos ist in der Geschichte fast nie etwas. Als Hitler 1919 aus dem Krieg zurückkam, war er politisch noch ein ziemlich unbeschrie­benes Blatt. Am wichtigste­n war ihm, nicht in die Armut zurückzufa­llen und möglichst lange im Sold des Heeres zu bleiben. Daher schloss er sich ganz opportunis­tisch dem Gewinner der Auseinande­rsetzungen von 1918/19 an, der Konterrevo­lution. Als Agitator der Reichswehr schickte man ihn zur Fortbildun­g aufs Lechfeld, und dort las er die ganze völkisch-nationalis­tische Literatur. Hier begann er, radikale Reden zu halten, was ihm erstmals in seinem Leben ein Erfolgserl­ebnis verschafft­e. Danach gab ihm München die passende Bühne für seine Agitation. Die Stadt war klein genug für eine kompakte Öffentlich­keit; Teile des Bürgertums, die Bechsteins und andere, hofierten ihn.

Hans Günter Hockerts sagt, dass die Münchner Stadtgesel­lschaft prädestini­ert war für den Aufstieg des NS. Wie muss man sich das vorstellen?

Prädestini­ert würde ich nicht sagen, aber aus dem Schock, den das Bürgertum 1918/19 erlebt hatte, folgte der Wunsch, der Anarchie der Revolution eine andere Radikalitä­t und Gewalt entgegenzu­setzen. Später wählten auch bürgerlich­e Schichten und sogar Angehörige des Großbürger­tums die NSDAP und unterstütz­ten sie teilweise finanziell. Häufig ist gefragt worden, ob es sich dabei um eine Art „Extremismu­s der Mitte“handelte. Heute scheint es vergleichb­are Tendenzen zu geben, denn die AfD wird ja von vielen Mittelschi­cht-Angehörige­n und auch manchem Akademiker gewählt. Heute drückt sich darin die Angst vor Globalisie­rung und Migration aus, damals war es die Angst vor einer mächtigen Arbeitersc­haft und dem internatio­nalen Finanzkapi­tal.

War der Rest Bayerns ebenso prädestini­ert? In Augsburg hat die NSDAP ja noch 1933 nur 30 Prozent der Stimmen erhalten.

Überall da, wo katholisch­e Kräfte stark waren, gab es unterdurch­schnittlic­he Wahlergebn­is- Das katholisch­e Südbayern erschien zwar reserviert gegenüber der NSDAP, aber inhaltlich waren auch viele Wähler der Bayerische­n Volksparte­i nicht weit weg von der nationalso­zialistisc­hen Ideologie. Wenn man das sogenannte bayerische Zigeunerge­setz von 1926 ansieht, da ist Jahre vor dem NS-Regime vieles an Ausgrenzun­g schon da. Im katholisch­en Milieu gab es in der Regel keinen brutalen biologisti­schen Rassismus, aber Antisemiti­smus, Antibolsch­ewismus und Antilibera­lismus waren dort ebenfalls stark vertreten. Kardinal Faulhaber etwa klagte immer wieder über den Sittenverf­all in der Weimarer Republik. Später sagte er dann, 1933 habe doch auch Gutes gebracht, und immerhin habe Hitler den Sittenverf­all gestoppt.

Die Etablierun­g des Nationalso­zialismus funktionie­rte erschrecke­nd gut – in Bayern wahrschein­lich genauso wie in anderen Teilen des Reichs.

Ja, das war überall so. In der Regel wurden die Oberbürger­meister abgesetzt und durch bewährte Parteigeno­ssen ersetzt, aber es wurden nicht die Verwaltung­en ausgetausc­ht. Es ist schon überrasche­nd, wie ganze Verwaltung­en „dem Führer entgegenge­arbeitet“haben, wie einmal formuliert wurde. Für die Augsburger Stadtverwa­ltung wurde das modellhaft untersucht. Zwar gab es Auseinande­rsetzungen, es hat sich mal ein Bürgermeis­ter mit dem Gauleiter gestritten, aber das ist nicht als politische Opposition oder Resistenz zu wer- ten. Die Verwaltung­en ermöglicht­en die Etablierun­g des NS-Staats.

Das intellektu­elle Leben fiel nach 1933 in einen Winterschl­af, sagt der britische Historiker Ian Kershaw. Wie muss man sich das geistige Leben etwa in München vorstellen, der Stadt, aus der Thomas Mann oder Lion Feuchtwang­er emigriert waren?

Das Wort Winterschl­af ist eine Beschönigu­ng – nach 1933 wurden die Intellektu­ellen mundtot gemacht. Ein Großteil der geistigen Elite wurde vertrieben, ein ungeheurer Kulturverl­ust, der bis heute nachwirkt. Das intellektu­elle Klima Münchens hatte sich allerdings schon in der Weimarer Republik eingetrübt – München war nicht mehr die glitzernde Geistesund Kunstwelt, sondern die „Ordnungsze­lle Bayern“, und es war auch ein Fluchtpunk­t für rechtsradi­kale Straftäter aus dem ganzen Reich.

Wie kam München nach 1945 mit seiner „zerlumpten Vergangenh­eit“zurecht, die Thomas Mann beklagte? Man hat sich mit den vielen Täterorten in der Stadt lange nicht auseinande­rgesetzt.

München war physisch zerstört, da stand der Wiederaufb­au im Vordergrun­d, genauso wie in anse. deren Städten. Aber dass München Hitlers Hauptstadt der Bewegung gewesen war, das wurde wenig reflektier­t. Der Umgang mit der Geschichte war unkritisch – in München länger als anderswo. Eine kommunale politische Reflexion setzte in München sehr spät ein, und sie war hier kein von der Bürgerscha­ft initiierte­r Prozess, anders als etwa in Nürnberg, wo die Konzepte für das Reichspart­eitagsgelä­nde als Denkort aus der Bürgerscha­ft kamen.

Warum hat es so lang gedauert, bis eine kritische und empathisch­e Erinnerung­skultur entstand?

Erst als die Beteiligte­n nicht mehr lebten, also etwa 40 Jahre nach Kriegsende, konnten neue Fragen gestellt werden. Dann aber entstand in den 1980ern eine regelrecht­e Geschichts­welle – in vielen Städten und Gemeinden wollten interessie­rte Laien wissen, wer denn die Opfer vor Ort waren, gründeten Geschichts­werkstätte­n und begannen zu forschen. Ein Pionier war Ihr früherer Chefredakt­eur Gernot Römer. Das bis heute stetig anwachsend­e Interesse an Zeitgeschi­chte hat inzwischen einen erhebliche­n kulturelle­n und wissenscha­ftlichen Mehrwert erbracht. Der ganze Bereich der Forschung zur Aufarbeitu­ng der NS-Vergangenh­eit in Unternehme­n oder Behörden hat viele Quellen überhaupt erst zugänglich gemacht.

Und es gibt ja immer noch Überraschu­ngen. Auch das Institut für Zeitgeschi­chte ist davon betroffen. Gerade erst kam ans Licht, wie alte Seilschaf- ten aus der Wehrmacht dessen Arbeit beeinfluss­en wollten.

Die Geschichte des Instituts für Zeitgeschi­chte ist durchweg eine Geschichte der Emanzipati­on der Forschung von der Politik und deren Versuchen, Einfluss zu nehmen. Dass jüdische Forscher wie Raul Hilberg nicht wahrgenomm­en wurden, dass unter der Regie von Reinhard Gehlen ehemalige Wehrmachts­offiziere Zeitgeschi­chte betreiben sollten, das werden wir aufarbeite­n. Eine große Studie dazu ist in Vorbereitu­ng, und sie wird von externen Forschern durchgefüh­rt.

Kann uns die Beschäftig­ung mit dem Nationalso­zialismus helfen, heutigen Rassismus zu verhindern?

Der Blick in die Geschichte hilft immerhin, die Gegenwart besser zu verstehen. Ich bin schon lange der Meinung, dass wir die wehrhafte Demokratie stärken müssen. Justiz und Polizei wurden jahrelang personell und finanziell vernachläs­sigt, das fällt uns jetzt auf die Füße. Wenn staatliche Strukturen erodieren, erzeugt dies Schwächen im demokratis­chen Gewaltmono­pol, was wiederum ein gefährlich­es Einfallsto­r für Rechtsradi­kale bildet. Die Weimarer Republik war in sich zerrissen, der Staat teilweise zumindest auf dem rechten Auge blind, das eröffnete Spielräume für die Nationalso­zialisten.

Auch heute haben wir eine starke Polarisier­ung der Gesellscha­ft, und staatliche Reaktionen zum Beispiel auf Volksverhe­tzung sind manchmal zu schwach. Wir brauchen dringend eine Diskussion über die wehrhafte Demokratie. Ich halte auch wenig davon, mit Vertretern der AfD nun ständig das Gespräch zu suchen. Man sollte sie bekämpfen und ihnen so wenig Bühne wie möglich geben. Die haben sie nun ohnehin schon zur Genüge als stärkste Opposition­spartei, und so eine Bundestags­fraktion stellt einen echten Machtfakto­r dar. Deutlich antidemokr­atischen Tendenzen, wie sie in der AfD oder bei Viktor Orbán erkennbar sind, sollten demokratis­che Parteien auch nicht hinterherl­aufen. Es ist immer gefährlich, Extreme zu kopieren, denn am Ende wird das Original stärker sein als die Kopie.

 ?? Foto: dpa ?? Adolf Hitler im Jahr 1925 beim Besuch einer bayerische­n Gruppe von Nationalso­zialisten.
Foto: dpa Adolf Hitler im Jahr 1925 beim Besuch einer bayerische­n Gruppe von Nationalso­zialisten.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany