Leitartikel
Die Kanzlerin wollte in ihrer letzten Amtszeit außenpolitisch Akzente setzen. Das wird schwer – aber sie könnte dafür den Deutschen klar sagen, was Sache ist
Es ist erstaunlich, was künstliche Intelligenz alles vermag. Im fernen China hat sie sogar Angela Merkel zurück zum Leben erweckt. Die Kanzlerin besuchte dort vorige Woche eine Forschungsstätte zur künstlichen Intelligenz. Teilnehmern zufolge zeigte sich Merkel hellwach, hoch interessiert, höchst agil, generell alles Eigenschaften der menschlichen Spezies. Diese waren aber in Berlin seit längerem an ihr nicht beobachtet worden.
Dort scheint Merkel vielmehr zu üben, wie sich ein Leben als Politrentnerin anfühlen würde. Nur ist sie ja noch keine Rentnerin, sondern wollte partout nicht die Frühverrentung. Doch bei allen Streitfragen der Gegenwart ist der Zoff in ihrer Koalition sehr laut, die Kanzlerin aber sehr leise. BamfSkandal? Angeblich nicht ihre Baustelle (auch wenn sie die Zuständigkeit für Flüchtlingspolitik früh ins Kanzleramt gezogen hatte). Diesel-Krise und die wichtige Frage, wie die Luft in Deutschlands Metropolen rein bleiben soll? Kein Thema für die Kanzlerin, zu nervig die Debatte mit den Autobossen.
Und Digitales, wie so offen bewundert in China? Da will Merkel einerseits eine massive deutsche Aufholjagd, aber zugleich doch alle Finessen der europäischen Datenschutzgrundverordnung. Wie das zusammenpasst, erklärt sie aber natürlich nicht.
Man hat den Eindruck, als traue die Kanzlerin ihrer Koalition schon jetzt nichts mehr zu. Damit mag sie sogar recht haben, der Glaubwürdigkeitsverlust – und die Unsicherheit – der SPD, aber auch der CSU sind mit Händen zu greifen. Dass diese Koalition keine Liebesheirat würde, war klar. Aber sie scheint nicht mal als Zweckehe zu funktionieren.
Warum wollte Merkel dann unbedingt mit dieser Koalition regieren? Eitelkeit wird es nicht sein, die ist ihr erstaunlich fremd geblieben. Auch die Angst vor dem Loslassen kann es nicht sein, sie würde mit einem Leben ohne Politik viel besser klarkommen als etwa ein Sigmar Gabriel oder Martin Schulz.
Nein, sie wollte außenpolitisch gestalten. Das möchten viele Kanzler in der Spätphase, aber Merkel war es bitterernst. Sie hat den Gedanken eines früheren Rücktritts Putin und daher kein ehrbarer Verbündeter, sosehr sich das Teile der SPD einzureden versuchen. Und China? Es bleibt der Verdacht, dort würde der Rest der Welt vor allem über den Tisch gezogen.
Bleibt Frankreich. Dessen Präsident Macron birst über vor Visionen. Aber die Vision, die wirklich wichtig ist, will – und kann – sie ihm nicht erfüllen. Eine echte Reform der Währungsunion ist ihr zu teuer, zu umstritten daheim.
Also bleibt außenpolitisch wenig zu erreichen für die Kanzlerin. Mit Blick auf die Umfragen könnte sie sagen: Was soll’s? Ihre Beliebtheitswerte steigen gerade sogar. Nur: Merkel muss nicht mehr wiedergewählt werden, weshalb sollte sie noch auf Umfragen schielen?
Die Kanzlerin sollte lieber uns Deutschen etwas zumuten, auch wenn es unpopulär ist. Etwa indem sie zur Digitalisierung ausspricht, was sie sonst nur im kleinen Kreis zu sagen wagt: dass wir Deutschen ob unseres Erfolges zu behäbig geworden sind, zu selbstverliebt. Und dass sich bald alles ändern könnte, wenn wir uns nicht ändern.
Warum sollte Merkel noch auf Umfragen schielen?