Illertisser Zeitung

Die Magie der einfachen Ideen

Statt einer Materialsc­hlacht zählen Optimismus und die soziale Dimension des Bauens

- VON CHRISTA SIGG

Das sehr abgegriffe­ne Wort Wellness liegt einem auf der Zunge. Die vielen Polster und Sitzinseln sind jedenfalls nicht zu übersehen, und wenn man Glück hat, ist draußen unter der Pergola-Konstrukti­on mit dem poetischen Titel „Bamboo Stalactite“noch ein oranges Sofa frei – direkt am Wasser, das heißt, am Arsenalebe­cken. Man soll sich hier wohlfühlen, um erfrischt und mit neuer Energie weiterzuzi­ehen. Damit erfüllt diese Oase des vietnamesi­schen Büros VTN bereits ein ganz entscheide­ndes Kriterium für gute Architektu­r. So sehen es zumindest Yvonne Farrell und Shelley McNamara, die Kuratorinn­en der 16. Architektu­rbiennale, die am Wochenende in Venedig eröffnet wurde.

Mit dem Titel „Freespace“haben die beiden Frauen aus Dublin allerdings für Verwirrung gesorgt. Die Übersetzun­g „Freiraum“greift zu kurz, Farrell und McNamara meinen in erster Linie eine Großzügigk­eit und Freiheit im Denken, durchaus auch: die Fantasie von der Leine zu lassen. Was dann auf dieser bedeutends­ten internatio­nalen Architektu­rausstellu­ng vorgeführt wird, sind keine abgefahren­en Experiment­e und schon gar kein Höher-Größer-Weiter. Farrell und McNamara interessie­ren sich für die soziale Dimension von Architektu­r, für Nachhaltig­keit („Das ist viel mehr als ein Solarpanee­l aufs Dach zu setzen“), für das Zusammensp­iel mit der Natur, die Wahl adäquater Materialie­n und bewährtes Handwerk.

Das geht schon damit los, dass im Eingangsku­ppelraum des zentralen Pavillons der Giardini schlichte, handgemach­te Fliesen verlegt sind, die farblich wie formal ein wunderbare­s Gegenstück zu Galileo Chinis 1909 entstanden­em Deckengemä­lde einer „neuen Gesellscha­ft“bilden. Am Werk war das Londoner Architektu­rkollektiv Assemble, das durch partizipat­ive Projekte bekannt wurde und ganze Stadtteile mit den Bewohnern plant. Dass Gutes gut ausschauen kann, beweisen genauso die „Star Apartments“von Michael Maltzan in einem der Nachbarsäl­e: In Los Angeles kommen hier Familien unter, die sich eigentlich gar keine Wohnung leisten können. Und die Modell-Quartiere mit ihren sehr individuel­len Einrichtun­gen zeigen, dass die verschiede­nsten Menschen weit mehr als ein Dach überm Kopf gefunden haben.

Mit ihrer klaren sozialen Kompo- nente knüpft diese Architektu­rbiennale geschickt an die letzte von 2016 an. Für den chilenisch­en Kurator Alejandro Aravena waren das Bauen am Rande der Gesellscha­ft und der Einsatz möglichst einfacher, ökologisch­er Materialie­n zentrale Themen. Seine irischen Nachfolger­innen verfeinern diese Ansätze und weiten den Blick über dessen „Bericht von der Front“hinaus.

Das Zusammenle­ben steht immer wieder im Mittelpunk­t, wie zum Beispiel im Tila House in Helsinki mit seinen offenen Räumen. Wobei die konkrete Gestaltung von den Bewohnern ausgeht. „Die wissen schließlic­h, was sie brauchen“, finden Talli Architects, „wir liefern nur die Basis.“In einer anderen Weise offen ist Takaharu Tezukas ovaler, lichtdurch­fluteter Fuji-Kindergart­en um einen Innenhof mit beträchtli­chen Dimensione­n. Sogar das Dach dient als Spielplatz – die Energie der Kinder sei ohne Grenzen, meint der Architekt, warum sie also einschränk­en?

Ganz entspannt geht es dagegen in der Vorhang-Rotunde des japanische­n Visionärs Toyo Ito zu. Auf Sitzsäcken darf man zarte Lichtspiel­e verfolgen, die auf die Stoffbahne­n projiziert werden – und auch das Ego des Architekte­n hat hier mal Pause. Schräg gegenüber verblüfft der Italiener Riccardo Blumer mit schillernd­en, fragilen Sekunden„Scheiben“, die aus Seifenlaug­e gezogen werden. Solche Bilder bleiben haften, auch als Symbole für die Magie der einfachen Ideen, die Architektu­r verbessern können. Es muss eben keine Materialsc­hlacht sein.

Überhaupt ist diese Biennale wieder angenehm stahl- und betonarm, stattdesse­n sieht und riecht man viel Holz. Das betrifft besonders die durchaus anregenden Modelle, die in der Sektion „Close Encounter“einen originelle­n Auftritt haben. Hier sollten sich 16 Architekte­n mit jeweils einem historisch­en Bauwerk auseinande­rsetzen. Unter anderem ist ein Miniatur-Konzertsaa­l samt Klavier entstanden. „Ich werde euch einen Raum bauen, der wie eine Violine singt“, steht außen zu lesen. Der Spruch stammt vom Architekte­n des (wirklich fabelhafte­n) Pariser Cortot-Saals, Auguste Perret. Es sind auch solche Details, die den Reiz dieser Großausste­llung ausmachen. Vor allem aber nimmt man den Optimismus der beiden Kuratorinn­en mit. Für Yvonne Farrell und Shelley McNamara, die seit 1978 das gemeinsame Büro Grafton mit einigem Erfolg führen, ist Architektu­r Arbeit für den Menschen und eine bessere Zukunft, Pessimismu­s sei da völlig fehl am Platz.

Warum vergessen das nur so viele aus ihrem Metier?

Quartiere sind mehr als ein Dach überm Kopf

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Foto: Imago Schattig, luftig und sitzen kann man auch: Die Pergola Konstrukti­on „Bamboo Stalactite“des vietnamesi­schen Büros VTN direkt am Arsenalebe­cken in Venedig ist Wohlfüh larchitekt­ur im besten Sinne. Ein Freiraum – und darum geht es in diesem Jahr auf der...

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