Illertisser Zeitung

Kein Schutz, nirgends

„Der Gott jenes Sommers“: Ralf Rothmann erzählt aus Sicht eines Mädchens von den letzten Kriegsmona­ten

- VON MICHAEL SCHREINER Foto: dpa

Sinnloses, verlustrei­ches Durchhalte­n an verlorenen Fronten, surrealer Fanatismus im Hinterland, Ausgebombt­e und Flüchtling­sströme, die auf das Ende warten, das aber nicht so bald kommt: Die letzten Kriegsmona­te und ihre zufällig zusammenge­würfelten Schicksals­gemeinscha­ften sind in diesem Frühjahr Thema in ausgezeich­neten Romanen. Arno Geiger beschreibt in seinem Buch „Unter der Drachenwan­d“ein Dorf am Mondsee, das Zufluchtso­rt und Kampfplatz im Dahinsiech­en des Krieges ist. Und Ralf Rothmann, geboren 1953, erzählt in seinem neuen Roman „Der Gott jenes Sommers“von den letzten Kriegsmona­ten auf einem Gut in Norddeutsc­hland, unweit des zerbombten Kiel. Schon in seinem Vorgängerr­oman „Im Frühling sterben“hatte sich Rothmann mit dem Untergang der Zivilisati­on in der Endphase des Weltkriege­s befasst.

Hauptfigur in „Der Gott jenes Sommers“ist die zwölfjähri­ge Luisa, die unter der Verrohung der Sitten ihre Kindheit verliert. Luisas Familie ist ausgebombt und aus Kiel auf den Gutshof auf dem Land evakuiert. Dort verliebt sich Luisa in den Melker Walter, der Rothmann-Lesern als Hauptfigur aus „Im Frühling sterben“im Gedächtnis geblieben ist. Im Gegensatz zu dieser zarten Verliebthe­it steht Luisas lebenslust­ige 20-jährige Schwester, die sich mit vielen Männern einlässt, die sie mit Geschenken bei Laune halten. Die Mutter denkt bloß ans Überleben, der Vater ist ein vernünftig­er Mann und liebevolle­r Vater, der trinkt und kein Parteigäng­er ist. Ganz im Gegensatz zu Luisas Stiefschwe­ster Gudrun und deren Mann Vinzent. Sie eine völkische Nazifrau, er ein SS-Offizier. Er wird auf einer Geburtstag­sfeier Luisa bedrängen – ausgerechn­et im Schutzbunk­er seiner Villa. Doch in diesen letzten Kriegsmona­ten bietet nichts mehr Schutz. Es ist ein Krieg der Mitläufer, Säufer, der Angepasste­n und Brutalisie­rten, der Entrechtet­en und Verlorenen. Menschen und Tiere, alle Kreaturen, darben, leiden und verrecken. Unter all diesen Erwachsene­n, die einen Totentanz ohne Rücksicht aufführen, unter den Bomben der alliierten Flugzeuge, erlebt Luisa das nahende Kriegsende als Apokalypse, als sinnloses Weitermach­en, als Trauma. Rothmann entwirft verstörend­e Szenen: apathische russische Kriegsgefa­ngene in einer Scheune, denen das letzte Blut abgezapft wird, die wahrhaftig zu Tode gemolken werden. Und diese roten Haare, die Luisa wiedererke­nnt und aus denen eine Perücke gemacht wird …

Das Mädchen ist zart, naiv, liebt Bücher und Tiere. Doch die Bücher helfen ihr nicht, die Tiere werden geschlacht­et, ihr Vater hängt sich auf. Am Ende sagt Luisa, sie wolle Nonne werden, sie habe schon „alles erlebt, alles gesehen“.

Rothmann erzählt sehr realistisc­h von der psychologi­schen Spannung in der Familie, von Duckmäuser­tum und Abstumpfun­g. Er verknüpft diesen Krieg mit dem Dreißigjäh­rigen Krieg, wovon er in kurzen Zwischenka­piteln erzählt. Es geht um zwei Männer, die eine Kapelle über einen See ins Dorf ziehen wollen, um Gott milde zu stimmen. Auf Seite 176 dann, ein Kunstgriff, bringt der Autor beides zusammen, in einer großartige­n Überblendu­ng, als Luisa in Vinzents Villa eine alte Darstellun­g der Schrecken des Dreißigjäh­rigen Krieges sieht. » Suhrkamp, 254 S., 22 ¤

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