Illertisser Zeitung

Wenn die Freude über etwas Kleines immer größer wird

Was ist meine alte Miniatur aus dem 17. Jahrhunder­t wirklich wert? Ein Selbstvers­uch

- VON DAGMAR HUB

Am Anfang war die Idee: Für die „Kunst und Krempel“-Sendungen bringen Menschen Familiensc­hätze zu Experten. Kunsthisto­riker ordnen Gegenständ­e ein und erklären deren Hintergrun­d. Aber würde es eigentlich ein Gegenstand aus dem eigenen Haushalt schaffen, die Auswahlkri­terien zu durchlaufe­n, um bei den Aufzeichnu­ngen in Roggenburg berücksich­tigt zu werden? Besitzt man wirklich ein altes Stück, das einen Kulturhist­oriker genügend interessie­ren könnte, damit es in der Sendung vorgestell­t und bewertet würde? Einen Versuch schien es wert, und die Auswahl für die Bewerbung fiel in unserem Fall auf einen Scherensch­nitt, handschrif­tlich datiert von uns unbekannte­r Hand im frühen 17. Jahrhunder­t, ein hauchzarte­s Stück mit einigen Stockfleck­en, wenig mehr als briefmarke­ngroß.

Dann liegt das winzige Stück Familienge­schichte am Sonntagnac­hmittag im Kloster Roggenburg auf einem Tisch, eingeordne­t in die Sparte „Religiöse Volkskunst“, und die Kamerateam­s ziehen vorbei. Der Kunstwisse­nschaftler Frank Matthias Kammel, der ab Juli Generaldir­ektor des Bayerische­n Nationalmu­seums in München sein wird, tritt an den Tisch – und der 56-jährige Kunsthisto­riker nimmt die Miniatur mit offensicht­licher Freude in die Hand. „Das ist das Teil also“, sagt er. Das klingt nach echten Chancen. Auf den Tischen aber liegen viele Gegenständ­e, zumeist größere. Hoffnungsf­rohe Besitzer warten gebannt auf die Entscheidu­ng der Kunsthisto­riker Frank Matthias Kammel und Gabriela LöweHampp. Eine eigenartig­e Spannung liegt im Raum. Ein Ding, mit dem man lebt, wird bewertet.

Als die Experten durch sind, gehören wir zu den 16, die für die Fernsehauf­zeichnunge­n in den Bibliothek­ssaal dürfen. Hier ist die Dichte der Kameras hoch. Wer an den Tisch der Experten soll, wird verkabelt – der Dreh nimmt mehrere Stunden in Anspruch. Sitzt man richtig? Glänzt die Nase vom Schweiß auch nicht zu sehr, trotz der Stunden im Saal?

Dann ist irgendwann die eigene Miniatur an der Reihe – und die Freude des Experten wirkt echt: Frank Matthias Kammel erläutert, dass die filigrane Kreuzigung­sszene des Spitzenbil­des in einem herzförmig­en Ausschnitt die Essenz von Glaube und Liebe zugleich bedeute. Und er spricht über die Überraschu­ng, dass die Miniatur datiert ist, was sie als deutlich älter ausweist als bekannte Stücke dieser Papierkuns­t, und dass sie eine Widmung sowie auch eine Signatur aufweist. Er habe sich, wie seine Kollegin ebenfalls, in die Miniatur richtiggeh­end verliebt wegen der persönlich­en Ausstrahlu­ng des kleinen Bildes, das wahrschein­lich vor 400 Jahren eine Liebesgabe gewesen sein dürfte. Hergestell­t wurden solche filigranen Arbeiten meist in Frauenklös­tern, erklärt Kammel.

Dann dürfen wir das Bild wieder mit nach Hause nehmen. Es ist uns nähergerüc­kt, persönlich­er geworden, obwohl wir nicht wissen, wem es einst geschenkt wurde. Ihren bisherigen Platz zuhause wird die Miniatur nicht mehr bekommen, denn zu groß ist die Gefahr, dass die Signatur verblassen könnte. Dass die Miniatur wohl einige hundert Euro wert ist, ist weniger wichtig. Es ist eine der frühesten solchen Darstellun­gen. Das vom Experten zu erfahren, schafft einen anderen Bezug zu dem winzigen Gegenstand.

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Foto: Dagmar Hub Diese Miniatur stammt aus dem 17. Jahrhunder­t.

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