„In Venezuela lebt man nicht. Man überlebt.“
Das lateinamerikanische Land hat die größten Schwerölreserven der Welt. Dennoch gibt es kaum Lebensmittel und Medikamente. Das Geld ist so gut wie nichts mehr wert. Wie sich das auf das Leben der Menschen auswirkt
Noch vor ein paar Jahren war das Leben von Doriana Mirabal ganz normal: Die Venezolanerin lebte in der Hauptstadt Caracas, studierte erst Erziehungswissenschaften und arbeitete anschließend als Personalanalytikerin. Dann änderte sich ihre Situation und die von Millionen Venezolanern: Durch Misswirtschaft und Korruption gab es immer weniger zu kaufen. Die Regale blieben leer und vor den Supermärkten bildeten sich lange Schlangen. Um Mehl kaufen zu können, musste Mirabal teilweise zehn Stunden warten. „Jeden Tag, an dem du aufgestanden bist, war es schlimmer“, erklärt die 24-Jährige. „In Venezuela lebt man nicht, man überlebt.“
Weil sie für sich keine Zukunft in ihrem Heimatland sah, wanderte Mirabal im Herbst 2016 nach Erlangen aus. Während sie sich an die Situation in Venezuela erinnert, schüttelt sie immer wieder den Kopf. Mirabal ist nicht die Einzige, die Venezuela verlassen hat. Nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe sind seit 2014 allein 1,5 Millionen Venezolaner – fünf Prozent der Gesamtbevölkerung – in die Nachbarstaaten ausgewandert.
Wie konnte es so weit kommen? „Venezuela ist das Land mit den Schwerölreserven der Welt“, erklärt Ana Soliz Landivar de Stange vom Politik-Forschungsinstitut Giga in Hamburg. „Aber der Staat ist einfach Bankrott und in den nächsten Jahren wird es definitiv nicht besser.“Das Land wird seit 2013 von dem Sozialisten und Populisten Nicolás Maduro regiert. Er ist der Ziehsohn des 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. Dieser stand seit 1999 an der Spitze des Landes. Er versprach seinen Wählern die große soziale Ungerechtigkeit im Land aufzuheben und mit dem vorherrschenden korrupten System zu brechen.
Doch weder er noch Maduro haben diese Versprechen gehalten. Stattdessen hat sich die Lebenssituation für viele Venezolaner verschlechtert. Zudem eigneten sich die beiden Politiker immer mehr Macht an. „Venezuela ist keine Demokratie mehr“, erklärt Soliz Landivar de Stange. „Das Regime von Nicolás Maduro ist definitiv ein autoritäres Regime. Es geht sogar in die Richtung einer Diktatur.“Oppositionsführer werden verfolgt und festgenommen, die Justiz und Presse sei nicht mehr frei und Wahlen nicht mehr unabhängig. Laut der Wissenschaftlerin gibt es außerdem kein demokratisches Parlament mehr.
Im vergangenen Jahr protestierten Oppositionelle im gesamten Land. Nathalie Aue war bei einigen Demonstrationen dabei, als sie im Urlaub in Venezuela war. Die 27-Jährige ist vor sieben Jahren nach Deutschland ausgewandert. „Freunde von mir wurden während der Proteste geschlagen und festgehalten“, erzählt sie. Demonstranten seien getötet worden.
Trotz der Missstände im Land hat Präsident Maduro laut Mirabal immer noch viele Anhänger. „Chávez ist seit 1999 an der Macht“, erklärt sie. „Viele sind mit ihm und Maduro aufgewachsen und kennen es nicht anders.“Vor allem junge Menschen aus der Unterschicht seien zum Beispiel daran gewöhnt, dass sie Lebensmittelpakete von der Regierung erhalten. „Für sie ist es nicht normal, in den Supermarkt zu gehen und dort kaufen zu können, was man möchte“, sagt die 24-Jährige. Die Eltern von Mirabal, beide Akademiker, sind ebenfalls überzeugte Regierungsanhänger. Es sei hart gewesen, mit ihnen nicht über Politik sprechen zu können. Das hätte nur zu Auseinandersetzungen geführt.
Soliz Landivar de Stange ist der Meinung, dass die Zustimmung eher seinem Vorgänger Chávez gilt als Maduro. „Aktuell ist es schwer zu verstehen, warum die Bevölkerung in Venezuela keine ,zivile Resistenz‘ gegen Maduro hält“, sagt sie. Ein Grund sei, dass die Mengrößten schen keine Alternative sehen. „Die Opposition in Venezuela hat deshalb auch ein Teil Verantwortung an der Situation. Ein Teil der Bevölkerung fühlt sich von der Opposition bedroht.“
Lebensmittelknappheit ist nicht das einzige Problem des Landes. Durch die Hyperinflation ist das Geld in Venezuela fast nichts mehr wert. Für einen Kaffee und ein Sandwich zahlte Mirabal in Caracas bis zu 500 Millionen Bolívares. Nach dem offiziellen Umtauschkurs der Regierung wäre ihr Monatsgehalt kurz vor ihrer Abreise nach Deutschland 4000 US-Dollar wert gewesen. Tatsächlich seien es jedoch nur 40 US-Dollar gewesen. „Venezuela hat wirtschaftlich fast immer nur importiert, sie haben fast keine Industrie entwickelt“, sagt Soliz Landivar de Stange. „Und die kleine Industrie, die es mal gab, ist in der letzten Zeit auch bankrottgegangen.“
Auch in den Krankenhäusern ist die Krise laut der Wissenschaftlerin bemerkbar: „Die Leute sterben. Nicht aber wegen der Krankheit selbst, sondern weil sie keine Medikamente haben.“Mirabal erinnert sich an eine Situation, als ihre Mutter ins Krankenhaus musste. Selbst in einem der besten privaten Krankenhäuser des Landes habe es weder Medikamente, Hygieneartikel noch Bettlaken gegeben. Zusammen mit anderen Venezolanern, die in Deutschland leben, schickt sie deshalb regelmäßig Medikamente, Klamotten und Spielsachen in ihr Heimatland und unterstützt ihre Eltern mit Geld.
Soliz Landivar de Stange sieht keine bessere Zukunft für das Land, solange es keinen Regierungswechsel gibt. Sanktionen, die Länder wie die USA verhängt haben, seien nutzlos: „Die Länder finden immer alternative Partner, die von Venezuela sind China und Russland.“Auch Mirabal hat wenig Hoffnung, dass sich die Situation in Venezuela bald ändern wird, und möchte deshalb in Deutschland bleiben. „Die Regierung wird nicht verschwinden, solange es keine Alternative gibt.“Ende Mai hat sich Maduro bei umstrittenen Wahlen mit 68 Prozent der Stimmen eine zweite Amtszeit bis 2025 gesichert. Mirabal wählte nicht: „Wen hätte ich wählen sollen? Es gab niemanden, der mich repräsentiert.“
„Die Leute sterben. Nicht aber wegen der Krankheit selbst, sondern weil sie keine Medikamente haben.“
Ana Soliz Landivar de Stange