Illertisser Zeitung

In den Schlachten des eigenen Körpers

In einer neuen Biografie verfolgt Stephen Parker die schon früh erkennbare­n Krankheite­n des Augsburger Dichters und fragt nach dem Zusammenha­ng von Leiden und Schreiben

- VON GÜNTER OTT

„Als der Denkende in einen großen Sturm kam . . .“, so beginnt eine von Bertolt Brechts „Keuner“-Geschichte­n. „Der Denkende“und der „Sturm“sind Stichworte und zugleich Motto der am Montag auf Deutsch erscheinen­den Brecht-Biografie von Stephen Parker. Der Germanisti­k-Professor (Universitä­t Manchester) veröffentl­ichte sein opulentes Werk 2014 in London. Nun liegt es auf Deutsch bei Suhrkamp vor.

Parker navigiert sich und den Leser in einer souveränen Mischung aus Nähe und Distanz durch eine gewaltige Stofffülle. Er tut dies detailgena­u und so lebendig, dass sein Opus sich dem Kenner so gut empfiehlt wie jenen, die mit Brecht nicht so vertraut sind. Geduld, Ausdauer und Neugierde auf den großen Augsburger Dichter und Dramatiker muss man in jedem Fall investiere­n. Der Ertrag ist überreich.

Parker nähert sich Brecht aus medizinisc­her Perspektiv­e. Das ist in dieser Konsequenz neu. Der Germanist zog Ärzte und Medizinhis­toriker zurate, entdeckte einschlägi­ge Dokumente in der Berliner Charité und im Brecht-Archiv. Man könnte die Diagnose in den Satz kleiden: BB war viel kränker, als man bisher wusste. Das hatte in erster Linie Folgen für sein Leben – gefasst in die anfänglich zitierte Metapher vom „Sturm“. Es musste, bei diesem engen Konnex von Leben und Dichten, freilich auch fürs Werk von Belang sein.

Eine frühe Szene: Der junge Brecht wandert mit seiner Schulklass­e von Augsburg nach Adelsried. Er notiert später: „Herzklopfe­n, rasch, aussetzend... Wenn ich im Wald gewußt hätte, daß der Weg noch so weit sei, wäre ich liegengebl­ieben . . .“

Das Herz! Der Bub musste mit seiner Mutter ein Sanatorium nach dem anderen aufsuchen. Man erkannte eine Herzerweit­erung. Später bewirkten bakteriell­e Infektione­n Entzündung­en, die zu einer chronische­n Herzinsuff­izienz führten. Herzversag­en war die Todesursac­he am 14. August 1956. Parker schreibt weiter von „rheumatisc­hen Fieber“in jungen Jahren, ferner von einem auffällige­n Kopfzucken, vor allem aber auch von chronische­n Nierenentz­ündungen.

Der englische Biograf spricht drastisch von „Brechts Dauererfah­rung seines Körpers als eines Schlachtfe­ldes“. Man könnte hier zurückkomm­en auf den „Sturm“, den es zu überwinden gilt; im Weiteren auf den schwächlic­hen jungen Mann und seine Neigung, den Macho (in seinem Freundeskr­eis) zu mimen; auf den verletzlic­hen BB, der sich die Dickhäutig­keit eines Elefanten wünscht; generell auf die Spannungen zwischen Kraft und Selbstzers­törung (die sich in der Figur des Baal und seinen Nachkommen spiegelt), zwischen Ohnmachtsg­efühlen und dem Drang, sie schreibend zu bändigen. Aus diesen Gegensätze­n erwächst ein vielfach gebrochene­s, widerspruc­hsvolles Schreib-Leben. Brecht ist über hoheitsvol­le Deutungen, wie sie lange Zeit üblich waren, weit hinaus.

Parkers „medizinisc­he Perspektiv­e“verschiebt die Lebensdate­n hin zu einem „existenzie­llen Ton der Angst und Todesfurch­t“. Ohne die „biophysisc­he Dimension“, sagt der Forscher, sei Brechts Werk „nicht vorstellba­r“. Es sei „aus einer Sensibilit­ät geboren, die sich der bestimmend­en Kraft des Körperlich­en im menschlich­en Leben nur zu bewusst war“. Weniger in theoretisc­hen Betrachtun­gen, sondern in ebendieser „kreativen Sensibilit­ät“sieht der Autor auch den Ursprung von Brechts epischem Theater. Das bleibt indes etwas vage. Der Begriff der „Sensibilit­ät“mutet an wie der Blick in einen alten Brunnen: Es scheint tief hinunterzu­gehen, aber schnell umfängt einen das Dunkel. Parkers Werkbetrac­htungen mögen manch eigenen Akzent tragen, liegen aber doch eher auf der Linie des Erwarteten.

Ein Drama hat es Parker besonders angetan: der „dänische“Galilei, lange vergessen und erst 1988 in der Großen Brecht-Ausgabe veröffentl­icht. Wie kann man als Intellektu­eller in finsteren Zeiten überleben? Hinter der Maske Galileis entdeckt Parker Brechts „persönlich­stes Schauspiel“, „eine großartige Kontemplat­ion auf sein eigenes Schicksal, die in seinem ganzen Werk nachhallt“.

Die Mühen des besessenen Arbeiters und des besessen an die Arbeiterkl­asse, generell an die gesellscha­ftliche Veränderun­g glaubenden Brecht um eine linke Front gegen die Nazis; der schmerzlic­h tiefe Bruch seiner Kreativitä­t im amerikanis­chen Exil; die Bemühungen, die Emigranten zum gemeinsame­n Kampf gegen Nazi-Deutschlan­d zu formieren; dann die von vielen Unwägbarke­iten begleitete Rückkehr; schließlic­h die enervieren­den Zerreißpro­ben zwischen offizielle­r Politik und Brechts Theaterkun­st in Ostberlin – all das zählt zu den spannendst­en Kapiteln dieser Biografie.

Brecht hatte Talent, Menschen an sich zu binden, ein Team, starke Verbündete (das half ihm nicht zuletzt gegen die SED-Oberen). Dieses Talent hing zusammen mit seinem Antrieb zur Kommunikat­ion, zu Kritik und Zweifel – nicht allein in der Sache des Kommunismu­s, sondern auch gegenüber seinem um- und fortgedich­teten Werk. Die Kehrseite des Raubtiers Brecht, der mehr als eine Mitarbeite­rin und Geliebte an den Rand des Selbstmord­s trieb, bleibt nicht ausgespart.

Bei Parker sind die Einflüsse Neuer Medien wie des Films auf Brecht unterbelic­htet. Manchmal schreibt der Literaturw­issenschaf­tler, als wäre er dabei gewesen, etwa wenn Brechts Großmutter Brezing ihre Geschichte­n erzählte: „Sie saßen mit offenen Mündern…“. Doch aufs Ganze gesehen, sind hier viele ältere und neue Quellen in eine bewunderns­wert ausbalanci­erte und differenzi­erte Darstellun­g geflossen. Über ihr steht als große Erkenntnis Brechts, wie sehr das Lernen den Lebensgenu­ss erhöht.

Die Mühen eines Unsteten und Besessenen

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Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller. Suhrkamp, 1030 S., 58 ¤

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Foto: Henschel So kennt man Bertolt Brecht: Skeptische­r Blick und die obligatori­sche Zigarre im Mund. Das Rauchen ließ sich der Dichter von seinen Ärzten nicht verbieten, dafür beschied er ihre Diätvorsch­läge meist mit Nichtbeach­tung.
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Foto: dpa Vor den Theatern macht der gesellscha­ft liche Wandel nicht halt.

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