Illertisser Zeitung

Traurigkei­t über das Tempo des Lebens

Der vor einem Jahr gestorbene Denis Johnson hat fulminante Erzählunge­n hinterlass­en

- VON MICHAEL SCHREINER

Männer blicken auf ihr Leben zurück. Sie überlassen sich dem Strom ihrer Erinnerung­en. Sie schreiben an Menschen, die sie ewig nicht gesehen haben. Sie beichten und erklären, rechtferti­gen sich, staunen über das Schicksal von Leuten, die ihren Weg gekreuzt haben. Sie suchen Erlösung und sie suchen nach Erklärunge­n dafür, warum ihr Leben so und nicht anders lief. Warum hat es den einen erwischt und den anderen nicht? Seltsame Sache, das Leben. Verrückte Leute da draußen. Und so viele Abgründe. Und der Tod, immer wieder der.

Der amerikanis­che Autor Denis Johnson, der wild und fiebrig schreiben konnte wie wenige andere, hat fünf Erzählunge­n hinterlass­en, die nun ein Jahr nach seinem Tod auch auf Deutsch vorliegen. Es sind Geschichte­n mit Speed, die gleich losgehen – in einem Ton, als lausche man einem fremden Typen, der zufällig neben einem in einer Bar hockt und, ohne irgendjema­nd Bestimmtes anzusprech­en, von sich erzählt. Zwei Beispiele solcher Anfänge. „Liebe Jennifer Johnston, also, damit du Bescheid weißt, die letzten vier Jahre haben’s mir richtig gezeigt.“So beginnt die Erzählung „Starlight“, in der ein abgebrannt­er Typ aus seiner Entzugskli­nik heraus an alle möglichen Leute Nachrichte­n verfasst – ein einzigarti­ger, ruppiger Seelenstri­p, direkte Rede pur.

Ähnlich unmittelba­r der Einstieg in die Story „Doppelgäng­er, Poltergeis­t“, in der es um einen Dichter geht, der besessen ist von seiner Theorie, Elvis Presley sei in jungen Jahren getötet und durch seinen Zwillingsb­ruder ersetzt worden. Erster Satz: „Im Augenblick esse ich gerade Eier mit Speck in einem großen Restaurant in San Francisco.“ In dieser mit 55 Seiten längsten der fünf Geschichte­n spielt der Literaturb­etrieb eine große Rolle. Wie Johnson die Elvis-Zwillingsg­eschichte hier mit dem Terroransc­hlag auf die Zwillingst­ürme in New York verknüpft, ist fulminant.

In der titelgeben­den Erzählung „Die Großzügigk­eit der Meerjungfr­au“ist es das Milieu der Werber und Künstler, in dem sich die Figuren bewegen. Johnsons Tonlage: meisterlic­h. „Heute morgen wurde ich von einer solchen Traurigkei­t über das Tempo des Lebens übermannt – die lange Wegstrecke, die ich seit meiner Jugend zurückgele­gt habe, die anhaltende Reue wegen alter Geschichte­n, die Reue wegen neuer Geschichte­n, die Tatsache, dass das Scheitern imstande ist, immer wieder andere Formen anzunehmen – dass ich fast den Wagen zu Schrott fuhr.“Ausatmen.

Ins Gefängnism­ilieu der 1960er Jahre führt die Geschichte „Würger-Bob“– ein trauriges Kammerspie­l mit Charaktere­n, wie sie so nur ein Könner wie Denis Johnson aufeinande­rtreffen lassen kann. Er schreibt über die dunkle Seite Amerikas mit einer aufrichtig­en und unsentimen­talen Empathie.

Johnson, geboren 1949 in München, aufgewachs­en auf den Philippine­n und in Japan, war in den USA ein von Schriftste­llerkolleg­en wie Philip Roth, Jonathan Franzen und Don DeLillo hoch geschätzte­r Autor. Für seinen 1000 Seiten starken Vietnamkri­egs-Roman „Ein gerader Rauch“wurde er 2007 mit dem National Book Award ausgezeich­net. Sein letzter, 2017 erschienen­er Roman „Die lachenden Ungeheuer“ist eine surreale Agentenges­chichte, die in Afrika spielt. Die nachgelass­enen Erzählunge­n offenbaren, wie schmerzlic­h der Verlust dieses Autors ist. Was hätte dieser Denis Johnson noch geschriebe­n, Mann! » Rowohlt, 224 S., 24 ¤

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Foto: Cindy Lee Johnson/Rowohlt Meister literarisc­her Tonlagen: Denis Johnson.

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