Illertisser Zeitung

Schulallta­g: Mathe, Deutsch, Grapschen

Eine Studie zeigt das enorme Ausmaß von sexueller Gewalt unter Schülern. Wer die Opfer sind und was Lehrer tun können, damit sich daran etwas ändert

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Hannah ist 17 Jahre alt, als sie sich umbringt. Die letzten Monate ihres Lebens durchleide­t sie ein Martyrium: Zuerst schickt ein Klassenkam­erad Fotos von ihr herum, auf der sie einen Jungen küsst, dann behauptet der, sie sei leicht zu haben und eine „Schlampe“. Ihr angebliche­r Kumpel Alex verfasst eine Liste, auf der sie als das Mädchen mit dem besten Hintern aufgeführt wird. Daraufhin wird sie von den anderen Schülern ständig angetatsch­t. Am Ende vergewalti­gt ein Mitschüler Hannah im Whirlpool.

Hannah gibt es nicht. Sie ist die erfundene Protagonis­tin der Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“. Die Leiden, die der Schülerin dagegen widerfahre­n, sind real. Sie passieren so oder ähnlich tagtäglich an vielen deutschen Schulen. Vermutlich auch in Klassenzim­mern in der Region.

Jeder zweite Neunt- und Zehntkläss­ler in Deutschlan­d wurde schon einmal Opfer sexueller Gewalt. Das beschreibt eine aktuelle Studie der Universitä­ten Marburg und Gießen. Deren Autoren definieren sexuelle Gewalt als „ Verletzung der körperlich­en oder seelischen Integrität, welche mit der Geschlecht­lichkeit zusammenhä­ngt“. Darunter fallen zum Beispiel: ● Sexuelle Kommentare, Beleidigun­gen und Witze, ● Exhibition­ismus, jemanden zwingen, sich Pornos anzuschaue­n, ● Belästigun­g im Internet oder das Veröffentl­ichen von Nacktfotos, ● Begrapsche­n, gegen den Willen Küssen, Vergewalti­gung.

Wohl kaum ein Schüler wird behaupten können, noch nie eine dieser Handlungen auf dem Pausenhof beobachtet zu haben. Gerade sexistisch­e Beleidigun­gen sind Alltag in der Schule, geht aus der Studie hervor. Körperlich­e Übergriffe passieren dagegen eher nach dem Unterricht. Die Täter sind zu 90 Prozent Jungs, die Opfer zu 90 Prozent Mädchen. Aber gerade bei Beleidigun­gen und sexistisch­en Witzen, werden auch immer wieder Schülerinn­en zu Täterinnen.

Marc Allroggen, Psychiater am Universitä­tsklinikum Ulm, fasst die Situation lakonisch so zusammen: „Sexuelle Gewalt ist Teil des Alltags der Schüler.“Allroggen forscht seit Jahren zu dem Thema. Zahlreiche Geschichte­n kann er erzählen, in denen Schüler auch in Schulen aus dem Landkreis Opfer sexueller Gewalt wurden.

Ein Beispiel: Ein 16-jähriges Mädchen hat einen neuen Freund. Er überredet die Schülerin, ihm Nacktfotos von sich zu schicken. Sie sendet ihm ein Selfie, auf dem sie Oben-ohne zu sehen ist. Kurz darauf zeigt der Junge das Bild seinen Freunden, schickt es herum. „So ziemlich jeder in der Schule hat sie nackt gesehen“, erzählt Allroggen. Für die Schülerin ein Albtraum. Wochenlang traut sie sich nicht mehr in die Schule, benötigt psychologi­sche Unterstütz­ung. Warum der Freund ihr das angetan hat?

Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Allroggen erklärt: „Jugendlich­e handeln oft impulsiv.“Manchmal wollen die Täter einfach toll dastehen, zeigen, wie cool sie sind. Sie denken nicht an die Konsequenz­en. Anderen fehlt es an sozialen Kompetenze­n – sie begreifen nicht, wie sehr sie ihr Opfer verletzen, oder es ist ihnen egal. Manchmal handeln die Täter auch nur, um selbst nicht mehr als Opfer zu gelten. Wenn die Täter erst einmal verstanden haben, wie sehr ihr Gegenüber leidet, befällt sie meist große Scham. Bis es allerdings so weit ist, leugnen viele die Tat.

Allroggen erinnert sich an einen jungen Patienten, der nicht in der Lage war, mit fremden Mädchen in Kontakt zu treten. Darum überredete der Junge seine deutlich jüngere Stiefschwe­ster dazu, ihm zwischen die Beine zu fassen. Selbst lange Zeit nach der Tat verstand der Schüler nicht, was er seiner Schwester damit angetan hat. Fälle wie diese zeigen: Täter sind häufig Opfer ihres eigenen Unvermögen­s. Aus diesem Grund brauchen nicht nur die Leidtragen­den Hilfe, sondern auch der übergriffi­ge Jugendlich­e – allein schon, damit er nicht zum Wiederholu­ngstäter wird. Allroggen betont, dass „nicht jeder, der sexuell gewalttäti­g geworden ist, ein Sexualstra­ftäter ist.“Die Täter müssen lernen, für ihr Handeln Verantwort­ung zu übernehmen.

Für die Opfer hingegen kann die erlebte sexuelle Gewalt zum traumatisc­hen Erlebnis werden: „Stimmungss­chwankunge­n und Reizbarkei­t, Minderung des Selbstwert­gefühls, depressive Verstimmun­gen oder Ängste“, seien typische Folgen, beschreibt eine Studie von Wissenscha­ftlern des Universitä­tsklinikum­s Ulm. Das kann sich bis zu einer posttrauma­tischen Belastungs­störung ausweiten. Ein Problem: Häufig begrenzt sich die sexuelle Gewalt heute nicht mehr auf das Klassenzim­mer.

Wer zehn Minuten auf Instagram rumklickt, findet relativ sicher unter dem Foto junger Frauen sexistisch­e Kommentare. Im eigenen Jugendzimm­er müssen die Schüler sich durch Mobbing in den sozialen Netzwerken weiter demütigen lassen. Und jeder kann mitlesen. – Was Schulen tun können, damit es nicht so weit kommt?

Allroggen appelliert, die Schulen müssten sich als „gewaltfrei­e Räume“etablieren. Man müsse mehr und vor allem spezifisch­er handeln. „Wir müssen weg von: hier ein Projekt, da ein Projekt. Sondern müssen Prävention und Gewaltfrei­heit stärker verankern.“Die Lehrer müssten besser geschult werden. Und die Schüler müssten wissen, wen sie als Ansprechpa­rtner zur Verfügung haben. Projektwoc­hen hätten wenig Sinn. Aber Allroggen ist zuversicht­lich: „Wir sind bei dem Thema sensibler geworden.“

Das betonen auch die Schulen in der Region. Man sei sich des Themas bewusst, sagt zum Beispiel Mark Lörz, Schulleite­r des Berthavon-Suttner-Gymnasiums in NeuUlm. „Vorfälle gibt es bei uns aber zum Glück keine“, sagt er.

Lörz gibt dennoch zu, dass man als Lehrer bei den üblichen Beleidigun­gen, die sich Schüler so an den Kopf werfen, durchaus abstumpfe. Er ist aber überzeugt, dass „Schüler diese Begriffe nicht so dramatisch wahrnehmen, wie Erwachsene.“Man müsse hier pädagogisc­hes Augenmaß wahren. In welchem Zusammenha­ng kam es zu der Beleidigun­g? Wie ernst wurde sie gemeint und aufgefasst? Als größeres Problem als die Schulhofbe­leidigunge­n sieht Lörz die sozialen Netzwerke. Darum dürfen Schüler der Unterstufe des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums keine Klassengru­ppe auf Whatsapp einrichten.

Auch die Politik befasst sich inzwischen mit dem Thema sexuelle Gewalt: Seit diesem Jahr sind bayerische Schulen gesetzlich verpflicht­et, einen Beauftragt­en für Familie und sexuelle Erziehung zu benennen, dessen Aufgabe es ist, sowohl Schüler als auch Lehrer über das Thema aufzukläre­n. Inwieweit diese Maßnahmen greifen werden, wird man abwarten müssen.

Deine Geschichte Hast du an deiner Schule schon einmal sexuelle Gewalt erlebt oder beobachtet und findest, darüber sollte berichtet werden? Dann schreib uns (klartext@illertisse­r-zeitung.de) oder ruf an unter 07303/175-27.

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Symbolfoto: Silvia Marks, dpa Die Zahl der Schüler, die in Deutschlan­d gegen ihren Willen sexuell gemobbt und angefasst werden, ist erschrecke­nd. Oft trauen sich die Opfer nicht, darüber zu sprechen.

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