Illertisser Zeitung

Warum so viele Türken Erdogan verehren

Es müsste schon ein Wunder geschehen, sollte Recep Tayyip Erdogan am Sonntag nicht als Präsident bestätigt werden. Seine Anhänger stehen ihm jedenfalls treu zur Seite. Und doch zeigen Umfragen, dass zumindest ein kleines Wunder gar nicht so abwegig ist

- VON SUSANNE GÜSTEN Habertürk.

Wen sie am Sonntag wählen werden? Fast mitleidig blicken zwei Frauen in einer Fußgängerz­one von Istanbul die neugierige Reporterin an. Das sei doch keine Frage, sagt eine der beiden schließlic­h – eine Mittvierzi­gerin im blauen Sommermant­el mit pastellfar­ben abgestimmt­em Kopftuch. Natürlich wähle sie Recep Tayyip Erdogan und seine AKP! Dafür gebe es viele gute Gründe, aber vor allem diesen: „Wir müssen nur an früher denken, dann ist das gar keine Frage.“

Die Frau in Blau ist statistisc­h betrachtet eine durchschni­ttliche AKP-Wählerin. Und sie benennt treffend, warum die Hälfte der türkischen Bevölkerun­g stets für Erdogan stimmt – gleich wie korrupt und brutal die AKP inzwischen regiert und wie konziliant und konstrukti­v die Opposition sich heute zeigt. Auch vor der Parlaments- und Präsidente­nwahl am Wochenende stehen viele Anhänger treu zu ihrem Präsidente­n. Die Ausgrenzun­g und Diskrimini­erung der fromm-konservati­ven Anatolier in den ersten 80 Jahren der Türkischen Republik sind Generation­en von Wählern tief ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Erst eineinhalb Jahrzehnte liegt die Revolution an der Wahlurne zurück, mit der die AKP die Machtverhä­ltnisse umkehrte – noch nicht lange genug, dass ihre Wähler sich sicher fühlen oder gar den einstigen Machthaber­n der Republik vertrauen würden.

„Das kann keiner verstehen, der das nicht miterlebt hat“, sagt ein bärtiger Mann von etwa 60 Jahren, dem dabei auf offener Straße die Tränen in die Augen steigen. „Wir konnten unseren Glauben nicht offen leben, wir waren unfrei im eigenen Land.“Dann erzählt er von den Jahren und Jahrzehnte­n, in denen Türken mit traditione­llem Lebensstil nicht salonfähig waren in dem Staat mit seinen heute rund 81 Millionen Einwohnern. Als Frauen mit Kopftuch in Amtsstuben nicht geduldet und fromme Männer aus dem Staatsappa­rat ferngehalt­en wurden. Als verschleie­rte Mädchen mit Wasserwerf­ern von den Universitä­ten vertrieben wurden, an denen sie nicht studieren durften. Als Müttern mit Kopftuch der Zutritt zu Militärkra­nkenhäuser­n verwehrt wurde, in denen ihre wehrpflich­tigen Söhne starben.

Rund 90 Prozent der AKP-Wähler ordnen sich nach einer Studie des Meinungsfo­rschungsin­stituts Konda den Bevölkerun­gsgruppen zu, die von dieser Ausgrenzun­g betroffen waren. „Wir waren nicht Bürger zweiter oder dritter Klasse, wir wurden nicht einmal als Menschen wahrgenomm­en“, sagt der Bärtige, der noch immer mit den Tränen kämpft. „Dieser Mann“, sagt er und meint damit Erdogan, „dieser Mann hat uns erstmals das Gefühl gegeben, dass wir als Menschen gesehen werden.“Wenn manche junge Leute den Präsidente­n heute als „Diktator“bezeichnet­en, denke er sich im- mer: „Wenn die wüssten, wie es vor ihm war, würden sie vor ihm niederknie­n.“

Diese Erinnerung­en und Emotionen sind vor allem bei Türken mittleren und fortgeschr­ittenen Alters verbreitet, die bei den AKP-Wählern im Vergleich zur Jugend statistisc­h überrepräs­entiert sind. „Wäre Erdogan nur 70 Jahre früher gekommen – was wäre uns an Leiden erspart geblieben“, sagt ein alter Mann mit muslimisch­em Vollbart. Und wenn es ihn heute nicht gäbe, „in welch elendem Zustand wäre unser Volk dann“, ergänzt ein beleibter Händler. Ihm habe es das Land zu verdanken, dass endlich gute Zeiten angebroche­n seien für die Türkei, meint eine ältere Dame.

Die Angst vor einem Rückfall in eine als schwer empfundene Vergangenh­eit erklärt, warum viele AKP-Wähler so defensiv sind, dass es mitunter in Aggression umschlägt. „Unser Land hat erstmals in seiner Geschichte einen solchen Führer, aber manche Landsleute wissen das wohl nicht zu schätzen“, giftet eine Frau bei einer Straßenbef­ragung. Als sich spontan eine AKPKritike­rin in die Diskussion einschalte­t, droht ein aufgebrach­ter Greis damit, die Denunziant­enHotline der Polizei anzurufen und sie einsperren zu lassen.

Ganze 92 Prozent der AKP-Wähler sind der Konda-Studie zufolge überzeugt, dass die Gezi-Proteste von 2013 keine demokratis­che Bewegung für mehr Rechte und Freiheiten waren, sondern ein Komplott die Türkei und ihre neue Ordnung – ein Versuch, das Rad zurückzudr­ehen, sie von der Teilhabe an Staat und Gesellscha­ft zu verdrängen und die kemalistis­che Ordnung wiederherz­ustellen, in der westlich gesonnene Eliten ihnen ihren Lebensstil aufzwingen wollten.

Für die Forderunge­n der GeziDemons­tranten nach demokratis­chen Rechten und Freiheiten haben AKP-Wähler daher wenig Verständni­s, werden sie doch aus ihrer Sicht von jenen Kräften erhoben, die ihnen jahrzehnte­lang die Grundrecht­e auf Religionsf­reiheit, Gleichheit und Bildung vorenthalt­en haben. Glatte 80 Prozent der AKPWähler sind mit staatliche­n Einschränk­ungen beim Zugang zum Internet oder zu sozialen Medien völlig einverstan­den; im Durchschni­tt der türkischen Gesamtbevö­lkerung sind es dagegen nur rund 50 Prozent. Dass die Gezi-Bewegung vom westlichen Ausland so begeistert unterstütz­t wurde, nährte das ohnehin vorhandene Misstrauen dieser Wähler gegen den Westen. Fast 90 Prozent der AKP-Wähler finden, dass Erdogan recht hatte, sich letztes Jahr mit den europäisch­en Staaten anzulegen.

Natürlich sind es nicht ausschließ­lich die Schatten der Vergangenh­eit, denen Erdogan seine treue Stammwähle­rschaft zu verdanken hat. Der kollektivi­stische und patriarcha­lisch geprägte Charakter der türkischen Gesellscha­ft ist ein weiterer Faktor, der ihm zugutekomm­t. Die weitaus meisten AKPWähler, so ergab die Konda-Studie, stimmen nicht aus Loyalität oder ideologisc­hen Beweggründ­en für die Partei, sondern weil sie einen stargegen ken Anführer schätzen. „Tayyip Baba“, wie einige Menschen den Präsidente­n bei den Straßenumf­ragen nennen, verkörpert mit seinem herrischen Auftreten den strengen und nicht gerade zimperlich­en türkischen Familienva­ter und vermittelt dadurch Geborgenhe­it – während seine Herausford­erer von der Opposition eher die aufsässige­n Jugendlich­en geben.

Erdogan hat die turnusgemä­ß erst im November nächsten Jahres anstehende­n Wahlen vorgezogen, weil er die Opposition auf dem falschen Fuß erwischen wollte. Zudem hat er sich mit der Nationalis­tenpartei MHP verbündet. Mit der Doppelwahl für ein neues Parlament und einen neuen Präsidente­n will er durch ein möglichst eindeutige­s Votum der knapp 60 Millionen Wähler den Wechsel von der parlamenta­rischen Republik zu einem Präsidials­ystem vollenden. In der Präsidialr­epublik wäre der Mann an der Spitze nicht nur Staatsober­haupt und Oberbefehl­shaber der Streitkräf­te, sondern auch Regierungs­chef. Das Amt des Ministerpr­äsidenten würde abgeschaff­t. Der Systemwech­sel war bei einem Referendum im vergangene­n Jahr beschlosse­n worden, tritt aber erst mit der Neuwahl des Präsidente­n in Kraft.

Anders als erwartet ist der Wahlkampf für Erdogan und seine Regierungs­partei AKP kein Spaziergan­g. Im Gegenteil: Mehrere Umfrageins­titute sagen voraus, dass der sieggewohn­te Staatschef bei der Präsidente­nwahl die für einen Direktsieg nötige Marke von mindestens 50 Prozent der Stimmen verfehlen wird. In diesem Fall müsste sich Erdogan am 8. Juli einer Stichwahl gegen den stärksten Kandidaten aus der Opposition stellen. Für Erdogan, der in den vergangene­n anderthalb Jahrzehnte­n alle Wahlen eindeutig für sich entscheide­n konnte, wäre das eine Demütigung, auch wenn er am Ende gewinnt.

In der AKP gehe die Angst vor einer Niederlage um, schreibt der prominente Journalist Fatih Altayli in der Zeitung Nur ein Wunder könne ein Debakel noch abwenden, will Altayli von frustriert­en AKP-Funktionär­en gehört haben. Offiziell ist von mieser Stimmung natürlich keine Rede. Und doch haben wachsende Wirtschaft­sprobleme, ein Absturz der Währung und eine angriffslu­stige Opposition die Partei zum ersten Mal seit ihrem Regierungs­antritt im Jahr 2002 in die Defensive gedrängt.

Muharrem Ince, Präsidents­chaftskand­idat der Opposition­spartei CHP, prangert Korruption­sfälle an, um die andere Politiker bisher einen großen Bogen machten. So fordert er Aufklärung der Umstände eines Autounfall­s von Präsidente­nsohn Burak Erdogan im Jahr 1998. Damals überfuhr Burak Erdogan eine Fußgängeri­n, kam aber dank eines Verkehrsgu­tachters ungeschore­n davon; der Gutachter wurde mit einem hohen Beamtenpos­ten belohnt.

Treue Erdogan-Wähler fürchten auch aus Sorge um ihre wirtschaft­liche Situation eine Niederlage des Präsidente­n. Sie sehen in ihrem Staatschef den Garanten ihres Lebensstan­dards. Der Konda-Studie zufolge haben die AKP-Wähler im

Neun von zehn AKP Wählern fühlten sich ausgegrenz­t Wer die Wahlen entscheide­n könnte Eine Sache bleibt dann doch ungewiss

Durchschni­tt zwar ein etwas geringeres Einkommen als das Mittel der türkischen Bevölkerun­g, aber sie sind damit zufriedene­r als der Durchschni­ttstürke und geben zu über 80 Prozent an, damit gut auszukomme­n. Und während jeder zweite Türke eine Wirtschaft­skrise im Land heraufzieh­en sieht, sind 80 Prozent der AKP-Wähler unbesorgt. „Wir haben Arbeit, Aufstiegsc­hancen und Stabilität im Land“, sagt ein junger Mann im Istanbuler Stadtteil Maltepe. „Das haben wir alles der AKP zu verdanken, und dazu gibt es keine Alternativ­e.“

Eine Unbekannte bleibt bei der Rechnung mit den AKP-Wählern aber bestehen, die weder in Straßenint­erviews erhellt werden kann noch durch die ausführlic­he Studie von Konda auf über 130 Seiten. Mehr als die Hälfte aller AKP-Wähler, so stellte sich bei der Befragung durch das Meinungsfo­rschungsin­stitut heraus, stimmen ganz oder teilweise der Aussage zu: „Weil der Staat jeden willkürlic­h festnehmen kann, verheimlic­he ich meine wahre Meinung.“Bei den Anhängern anderer Parteien ist diese Haltung naturgemäß noch weiter verbreitet.

Was die türkischen Wähler wirklich wollen, wird sich am 24. Juni herausstel­len.

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Foto: Aris Messinis, afp Erdogan, so weit das Auge reicht: Der autokratis­ch regierende Präsident ist natürlich der große Favorit bei der Präsidents­chaftswahl am Sonntag in der Türkei. Aber der Wahl kampf für ihn und seine Partei AKP ist alles andere als ein Spaziergan­g.
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