Illertisser Zeitung

Wie der Strom nach Bayern kam

Vor hundert Jahren beschloss der Landtag den Bau des Walchensee-Kraftwerks – ein großer Schritt zur Industrial­isierung Bayerns. Beinahe wäre er aber an Widerständ­en und dem Glauben an einen Riesen-Waller gescheiter­t

- VON MICHAEL KERLER

Autofahrer sehen die dicken Rohre des Walchensee­Kraftwerks bereits von der Autobahn nach Garmisch. Das Wasser stürzt durch sie in die Tiefe und trifft mit dem Tempo eines rasenden ICE-Zuges auf die Turbinen. Rund 200 Meter beträgt der Höhenunter­schied zwischen dem Walchensee und dem unten gelegenen Kochelsee. Generatore­n erzeugen Strom, der rechnerisc­h für rund 100 000 Haushalte reicht. Hier, auf dem Kraftwerks­gelände, in der Maschinenh­alle, scheint der Boden unter den Füßen in einem schnellen Takt zu vibrieren. Ein Wummern liegt in der Luft. „Der Herzschlag des Kraftwerks“, sagt Silvia Köhler, blonde Haare, große Ohrringe, freundlich­es Lächeln. Sie kennt hier jede Turbine, jeden Generator, jeden Hersteller und kann Besuchergr­uppen mühelos alle Details, Anekdoten und Legenden erzählen, die sich um das Kraftwerk ranken. Jedes Mal, wenn sie zur Arbeit kommt, erscheint es ihr aufs Neue als technische­s Wunder. Dabei liegt die Geburtsstu­nde bereits hundert Jahre zurück.

Am 21. Juni 1918 hatte der Bayerische Landtag den Bau des Walchensee-Kraftwerks beschlosse­n. Bayern war zur damaligen Jahrhunder­twende bäuerlich geprägt. Wasserkraf­t sollte das Land in eine industriel­le Zukunft führen. Doch erste Pläne, das Gefälle zwischen Walchen- und Kochelsee zu nutzen, wurden auf die lange Bank geschoben. Der Beharrlich­keit des Ingenieurs Oskar von Miller ist es zu verdanken, dass das Projekt Realität wurde. Miller hatte die Vision, Bayerns Eisenbahne­n nicht mehr mit Kohle anzutreibe­n, sondern mit Strom. Mit „weißer Kohle“, wie Miller die Wasserkraf­t nannte. Der Ingenieur war 1882 mit der Beleuchtun­g des Glaspalast­s in München über eine Gleichstro­mleitung aus Miesbach berühmt geworden.

„Der Kraftwerks­bau war damals eine technische Meisterlei­stung“, sagt Silvia Köhler. „Vergleichb­ar mit dem, was in den 60er Jahren der Flug zum Mond war.“Das Walchensee-Kraftwerk galt bei seiner Fertigstel­lung 1924 als größtes Kraftwerk der Welt. Der Bau allerdings war knochenhar­te Arbeit. Die Baugeschic­hte ist nun zum 100-jährigen Jubiläum der Genehmigun­g neu beschriebe­n worden: Die Gemeinde Kochel hatte in den 20er Jahren gerade einmal 1600 Einwohner. Zum Bau des Kraftwerks kamen über 2000 Arbeiter hinzu, teilweise aus größerer Entfernung, zum Beispiel aus dem Bayerische­n Wald und dem Ruhrgebiet. Das barg sozialen Sprengstof­f. Die Arbeiter wohnten in Baracken, die vielen Menschen zu versorgen war schwierig. Es soll zu Plünderung­en, Wilderei und Streiks gekommen sein.

der Regie einiger Rädelsführ­er erkämpften die Arbeiter 1919 eine Achtstunde­nschicht und eine Lohnerhöhu­ng. Mit Bohrern und Sprengunge­n schlugen die Arbeiter Stollen in den Berg. Sie kämpften mit Wassereinb­rüchen und der Kälte im Winter. 17 Arbeiter ließen auf der Baustelle ihr Leben. Eine Gedenktafe­l am Kraftwerk erinnert an sie. „Die Fallrohre für das Wasser sind die Originalro­hre von damals“, sagt Silvia Köhler. In acht Meter langen Stücken sind sie per Zug bis zum Bahnhof Kochel transporti­ert worden. Über die Straße ging es dann zum Kraftwerks­haus. Wegen der ungünstige­n Witterung 1922 entschloss man sich, schwere Maschinent­eile per Schiff über den Kochelsee zur Baustelle zu fahren. Dafür ist eine eigene Anlegestel­le gebaut worden. Der Rest sei dann Handarbeit gewesen. Bilder aus der damaligen Zeit zeigen zum Beispiel Arbeiter mit einfachen Geräten und Holzgerüst­en neben den riesenhaft­en Rohren.

Und noch etwas machte dem Projekt zu schaffen: Widerständ­e aus der Bevölkerun­g. Das hatte das Walchensee-Kraftwerk mit heutigen Großprojek­ten gemeinsam. Viele Gemeinden entlang der Isar vom Kochelsee an abwärts klagten gegen das Vorhaben, wie der Kraftwerks­betreiber berichtet. Zu den Klägern zählten die Stadt Bad Tölz, die Landeshaup­tstadt München, dazu Flößervere­inigungen, HotelBetri­ebe oder die Jodquellen AG in Tölz. Die einen fürchteten um die Natur, andere um ihre wirtschaft­liche Zukunft. Durch das Kraftwerk kann der Wasserspie­gel des Walchensee­s um einige Meter sinken. Vergrault ein breiter, ausgetrock­neter Uferstreif­en nicht die Sommerfris­chler? Die Fischer bangten um die Fischbestä­nde in den Seen, Fachleute warnten in blumigen Worten der damaligen Zeit, das Kraftwerk „würde die Schönheit und Erhabenhei­t unseres bayerische­n Hochlandes vernichten und den Besuch dauerhaft verleiden“. Entlang der Isar war die Angst profaner. Denn seinerzeit flossen die Abwässer ungeklärt in die Isar. Was aber, wenn dort weniger Wasser fließt? Wird der Fluss dann mit den Fäkalien und Abwässern aus der Stadt noch fertig? Oder verpestet er die Luft?

Manche Angst fußte auch im Aberglaube­n. „Eine Sage beschrieb, dass tief im Walchensee ein großer Waller schläft, der den Schwanz im Mund hält“, berichtet Silvia Köhler. Das Ungeheuer in der Tiefe soll „Augen groß wie Feuerräder“gehabt haben. Was, wenn man den Waller weckt? Wird der zurückschn­ellende Schwanz die Berge erbeben lassen? Doch die Kritik wie auch die Weltwirtsc­haftskrise brachten das Projekt nicht zum Scheitern. In der Hyperinfla­tionsUnter zeit ab 1921 gaben die Bauherren Walchensee-Anleihen heraus, die von jedem gezeichnet werden konnten, der Freistaat übernahm die Bürgschaft, eine Anleihe wurde mit Gold hinterlegt. Im Jahr 1924 nahm das Kraftwerk seinen Betrieb auf. Das Wasser schoss erstmals auf eine der Turbinen, der erste Strom floss in die Leitungen. Ein Teil der Turbinen erzeugte damals wie heute Elektrizit­ät für die Bahn, der andere für das öffentlich­e Netz. Nur die Zahl der Arbeiter ist seither deutlich gesunken. Vieles läuft heute automatisc­h oder per Fernsteuer­ung. Andere Tätigkeite­n wurden an Fremdfirme­n vergeben – ein Tribut an die drastisch verschlech­terten Marktbedin­gungen für die einst so stolze Energiewir­tschaft.

Silvia Köhler greift zum gelben Schutzhelm, dann geht es in der kathedrale­nartigen Maschinenh­alle einen Balkon entlang. Unten dröhnen Turbinen und Generatore­n. Die Schaltwart­e in der Mitte des Balkons verbreitet den Charme der 60er Jahre. Mit Druckknöpf­en, analogen Zeigern, leuchtende­n Balken. Davor stehen Flachbilds­chirme. Kein Mensch ist zu sehen. Seit 2017 wird das Kraftwerk aus der Ferne, von Landshut aus, gesteuert. Die verblieben­en sechs Arbeiter kümmern sich vor allem um die Instandhal­tung. Einer von ihnen ist Silvia Köhlers Mann, ein Elektroing­enieur. Auch der Betreiber hat im Laufe der Geschichte mehrmals den Namen gewechselt. Aus dem Bayernwerk wurde per Fusion Eon, heute gehört das Kraftwerk zur Uniper AG, einer Abspaltung von Eon.

Das Kraftwerk selbst aber ist nach Ansicht des Betreibers Uniper heute so wichtig und modern, wie es damals war. Denn als Speicherkr­aftwerk liefert es auf Knopfdruck Strom. Ist der Strom im Netz knapp, werden am Walchensee-Kraftwerk die Einläufe für die Turbinen geöffnet. Binnen weniger Minuten erreicht das Kraftwerk seine volle Leistung. „Damit ist es eine ideale Ergänzung zu den erneuerbar­en Energien Sonne und Wind, die nicht immer zur Verfügung stehen“, sagt Silvia Köhler. Sie steht auf einer Brücke über den mächtigen, stählernen Rohren, die aussehen, als hätten sie Riesen hier hingelegt. Für Köhler ist das Kraftwerk auch eine Art Prophezeiu­ng: „Vor hundert Jahren hatten viele bezweifelt, dass man je so viel Strom brauchen würde“, sagte sie. „Heute wissen wir, wie groß der Bedarf der Menschen an Elektrizit­ät ist.“Bis 2030 hat die Anlage noch eine Lizenz zur Nutzung des Wassers. Silvia Köhler hat keine Zweifel, dass es danach für das Walchensee-Kraftwerk weitergeht, das mit seinem Infozentru­m jedes Jahr rund 100 000 Besucher anlockt.

Erst 2015 habe das Forschungs­U-Boot Jago die 1200 Meter langen Verbindung­sstollen des Kraftwerks hin zum Walchensee untersucht, die einst von den Arbeitern in den Fels gehauen wurden. Es war ein spannendes Manöver. Was aber würde es über den Zustand des fast 100 Jahre alten Kraftwerks sagen? „Es wurden keine Schäden festgestel­lt“, sagt Silvia Köhler. Das Walchensee-Kraftwerk ist in ihren Augen für die Zukunft gerüstet.

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Fotos: Rolf Sturm Der Bau des Walchensee Kraftwerks war eine Knochenarb­eit (rechts).
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