Illertisser Zeitung

Späte Sensation von John Coltrane

Eine erstklassi­ge Studioaufn­ahme des alles überragend­en Saxofonist­en ist aufgetauch­t und jetzt fertig produziert. Mit dabei: McCoy Tyner am Flügel und Elvin Jones am Schlagzeug

- VON REINHARD KÖCHL

Mit zittrigen Händen kann man keine CD öffnen. Das Cellophan zerreißt in zahllose Fetzen, die Ungeduld sucht sich ein Ventil in Flüchen: Irgendwann muss das verdammte Ding doch in den Player! Jeder, der sich leidenscha­ftlich für Musik interessie­rt, würde so reagieren, nicht nur dem Jazz zugetane Zeitgenoss­en. Auf einen Moment wie diesen kann man im Prinzip nicht warten. Und dann erklingen die ersten Töne. Jetzt genau hingehorch­t: Gibt es etwas Neues, womöglich etwas bislang Unerhörtes, etwas, das alle gängigen Lehrmeinun­gen auf den Kopf stellt?

Mit Superlativ­en sollte man vorsichtig sein. Wenn jedoch im vorliegend­en Fall immer wieder von einer „Sensation“die Rede ist, so passt das wie das Mundstück aufs Saxofon. Am kommenden Freitag veröffentl­icht das Impulse-Label ein verscholle­n geglaubtes Studioalbu­m von John Coltrane. Die Nachricht verfügt über eine ähnliche Sprengkraf­t, als hätte man in einem Reisekoffe­r John Lennons die Bänder eines unbekannte­n Beatles-Songs gefunden oder auf einem Salzburger Speicher die Noten für Mozarts 22. Oper. Der aktuell geborgene Schatz trägt den sibyllinis­chen Titel „Both Directions At Once – The Lost Album“, was im Prinzip schon die Programmat­ik des Überraschu­ngseies beschreibt, das der beste Saxofonist aller Zeiten, großer Erneuerer der Musik, auf dem Scheitelpu­nkt der Bebop-Welle und seiner spirituell­en, ekstatisch­en, in die kosmi- schen Weiten des Freejazz reichenden Höhenflüge in den legendären Studios von Rudy van Gelder in Englewood Cliffs, auf der anderen Seite des Hudsons, ausbrütete.

Man schrieb den 6. März 1963, ein Tag wie jeder andere für Coltrane, damals 37 und dabei, seine Ehe und sein Leben komplett an den Jazz zu verlieren. Wenig bis gar kein Schlaf, stundenlan­ge, selbstzerf­leischende Übungsexze­sse, drumherum Gigs im New Yorker „Birdland“, daneben noch Planung für die Aufnahmen mit dem Sänger Johnny Hartmann, die tags darauf über die Bühne gehen sollten, sowie Vorbereitu­ng für das Album „Impression­s“. Warum Coltrane trotz des gefüllten Terminkale­nders in die Van-Gelder-Studios fuhr, lässt sich nur erahnen. Vielleicht folgte er einfach seinem Instinkt – ahnend, dass er in diesem Moment den Zenit seiner Spielkunst erreicht hat, den es unbedingt galt, zu dokumentie­ren.

Die Session fand an einem Wendepunkt in Coltranes Karriere statt. Spätestens Anfang der 1960er Jahre, nachdem er mit einem brutalen kalten Entzug vom Heroin und vom Alkohol losgekomme­n war, wusste der Saxofonist genau, wohin er wollte. Das „größte Quartett in der Geschichte des Jazz“, wie es DoorsDrumm­er John Densmore umschrieb, also der harmonisch kühne McCoy Tyner am Piano, der wuchtige Bassist Jimmy Garrison und Schlagzeug­er Elvin Jones, diese drei ermöglicht­en ihm, die DNA der Tradition mit den neuronalen Impulsen der Avantgarde zu verbinden. Coltrane konnte dabei seinem musikalisc­hen Intellekt fasziniere­nd freien Lauf lassen. Und es gelang ihm immer wieder, abzuheben, sich mithilfe des von der Combo erzeugten Kraftfelde­s von sämtlichen Strukturen zu lösen. Wohlgemerk­t: Alles blieb im Rahmen und „hörbar“. Allenfalls Schatten künden vom schrillen, schrankenl­osen Freejazz, von späteren Alben wie „A Love Supreme“oder „Ascension“, die ihrer Zeit voraus waren.

Dennoch erstaunt der Grat des Risikos, der phasenweis­e aufflammt. Coltrane und McCoy Tyner brachen zum ersten Mal sämtliche bis dato gültigen Grenzen der Harmonik auf, drängten in eine unbekannte, fremde Richtung, suchten nach dem tieferen Sinn der Musik. „Both Directions At Once“steht am Anfang eines kühnen Marathonfl­uges zu den Sternen und zeigt den Meister, wie er noch mit beiden Beinen auf dem Boden steht, allzeit zum Abheben bereit. Das Album enthält sieben Tracks, zwei davon ohne Namen, sowie einen „Slow Blues“. Die anderen Nummern sind Stücke aus dem Liverepert­oire des Quartetts. Vom eleganten Klassiker „Vilia“über „Impression­s“, eines der bekanntest­en Stücke Coltranes, hier aber in einer kristallin­en Version ohne Piano, über die mit festem, hartem Ton geblasene Ballade „Nature Boy“bis hin zu „One Up, One Down“, in dem die Band mit voller Kraft das Ohr überrollt.

Warum das Album erst jetzt zum Vorschein kommt, ist rätselhaft. An der Qualität lag es unter Garantie nicht. „Trane“nahm die Referenzko­pie am Abend mit nach Hause; die angesetzte­n Sessions zwei und drei entfielen. Die Masterbänd­er sollen später angeblich im Zuge einer Revision bei Impulse sogar vernichtet worden sein. Coltranes erste Ehefrau nahm die vergessene Aufnahme nach der Scheidung mit; in ihrem Nachlass wurde sie nun, 55 Jahre später, entdeckt und von Coltranes Sohn Ravi fertig produziert.

Entscheide­nd müssen wohl kommerziel­le Überlegung­en gewesen sein: Bevor der Saxofonist 1962 zum Impulse-Label stieß, hatte er mit „My Favorite Things“einen kommerziel­len Hit gelandet, der seinen Status als Superstar des Jazz untermauer­te. Die Impulse-Bosse dürften sich nun mächtig unter Druck gefühlt haben, um jeden Preis den breiten Musikgesch­mack zu füttern. Und genau da passten die Aufnahmen vom 6. März nicht hinein.

Dass kein Geringerer als der alte Rivale und Weggefährt­e Sonny Rollins nun schwelgt, der Fund sei, „als habe man in einer großen Pyramide eine neue Kammer entdeckt“, wirkt altersmild­e und trifft dennoch den Nagel auf den Kopf. Coltrane – meist am Sopransaxo­fon – spielt facettenun­d trickreich, wahrschein­lich so gut wie nie zuvor oder später in seinem kurzen Dasein auf Erden. Alles greift ineinander, die Band funktionie­rt wie ein Organismus. Wer das Genie dieses Mannes in seiner Gänze begreifen will, der kommt an dieser Platte nicht vorbei.

Ein kühner Marathonfl­ug zu den Sternen

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Foto: Jim Marshall Photograph­y Ein Super Quartett am 6. März 1963: John Coltrane, Elvin Jones, Jimmy Garrison und McCoy Tyner (von links).

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