Illertisser Zeitung

Euphorie in Russland

Zwei Spiele, zwei Siege, 8:1 Tore: Noch nie ist ein WM-Gastgeber besser in ein Turnier gestartet. Endlich scheint sogar ein Nachfolger für die Legende Lew Jaschin gefunden

- VON ALEXANDER HEFLIK Sowjetski Sport SportExpre­ss

Russland entdeckt das Flair der Weltmeiste­rschaft. „Rooo-ziiiii-jaaaa“schallt es durch die Straßen des Landes, der sonst eher zurückhalt­ende Russe springt auf und umarmt seinen Nachbarn. Zweiter Sieg, Erfolge über SaudiArabi­en und Ägypten bewegen plötzlich die Gemüter landesweit. Noch nie ist ein WM-Gastgeber besser in ein Heimturnie­r gestartet. Staatschef Wladimir Putin sieht zufrieden aus, wenn er in seiner panzerglas­gesicherte­n VIP-Box sitzt. Das war sein Plan.

In der Arbat, einer dieser Touristens­traßen in Moskau, ist immer irgendwie Weihnachte­n, ein Glitzerlic­htteppich liegt Tag für Tag über der Passage, die mit Souvenirsh­ops, Starbucks und russischen Kneipen gepflaster­t ist. Bislang strömten vor allem die Gäste-Fans dorthin, nun mischen sich die russischen Anhänger nicht mehr ganz vorsichtig mit auf die Straße. Letztgenan­nte wissen um die strengen Versammlun­gsregeln in Russland, aber die omnipräsen­ten Sicherheit­skräfte schreiten nicht ein, sie schauen weiter grimmig, aber nun haben einige auch die Farben der russischen Fahne aufs Gesicht gemalt. Oder vom Senegal. Wobei: Männer in Camouflage sind weiterhin stets mit größter Vorsicht zu genießen.

Dennoch: Alles wird lockerer, die Fan-Feste in den elf Austragung­sorten sind nicht selten am Rande ihrer Kapazität angelangt. Auf den Sperlingsb­ergen in Moskau nahe der Universitä­t kommt an manchen Tagen keiner mehr rein. Dabei haben die Studenten Prüfungsze­it. Erste Autos mit auf der Kühlerhaub­e angebracht­er rot-weiß-blauer Flagge sind zu sehen in Sotschi. Kasan feiert die ganze Nacht. Keiner fragt mehr nach den Kosten, nach fehlender Demokratie, Menschenre­chtsverlet­zungen. Das war doch sowieso nur ein Thema der Ausländer, sagt Kirill, der Concierge im Hotel Salut. Man interessie­rt sich für die Sbornaja, der zweite Sieg gegen Ägypten beseitigte Zweifel an der Eintagsfli­ege. „Wir reißen die Rivalen in Stücke“, titelte die Zeitung martialisc­h, während die

voller Pathos schrieb: „Ganz egal, was jetzt noch kommt, wir werden uns immer mit glückselig­en Gefühlen an diese Tage erinnern.“Vergessen ist die schwache Vorbereitu­ng des Teams von Trainer Stanislaw Tschertsch­essow, die Pleiten gegen Österreich und die Türkei. Ein neuer Liebling ist auch schon gefunden: Denis Tscherysch­ew. Lew Jaschin war gestern, wo findet man ein Tscherysch­ew-Tri- kot mit der Nummer 6? Drei Tore in zwei Partien, Russland liebt ihn wie 2006 Deutschlan­d Arne Friedrich, dabei ist der 27-Jährige bereits mit sechs Jahren nach Spanien ausgewande­rt, weil sein Vater dort als Profi in Gijon sein Geld verdiente – und ist da immer geblieben. „Wir wissen alle nicht so recht, warum es plötzlich so gut läuft. Wir können es uns nicht erklären“, sagte der 27-Jährige. Er wisse nur, „dass wir das Land weiter frohlocken lassen wollen“.

„Rossija, Rossija, Rossija“. Zwei Fußballsie­ge bewegen ein riesiges Land auf durchaus positive und charmante Art und Weise. Erste Autokorsi bilden sich, verhalten, aber tatsächlic­h mit Fahnen und Fanfaren. Wobei Hupen in den Städten Russlands beim Autofahren sowieso zum guten Ton gehört.

Die ausländisc­hen Gäste haben es vorgemacht. Moskau war anfangs fest in der Hand der Mexikaner und Argentinie­r. Und allen anderen, die im Luschniki-Stadion oder der Spartak-Arena mit ihren Nationalte­ams antreten durften. Jetzt haben sich die Russen unter das FußballVol­k gemischt und das Multikulti­Spektakel für sich entdeckt, sie feierten bis zum Morgengrau­en – wobei die Sonne in Moskau schon um 3 Uhr aufgeht. Fast schon unglaublic­h, es ist schon jetzt ein kleines russisches Sommermärc­hen.

 ?? Foto: Alexander Zemlianich­enko, dpa ?? Russische Fußballfan­s feiern den 3:1 Sieg der Sbornaja über Ägypten.
Foto: Alexander Zemlianich­enko, dpa Russische Fußballfan­s feiern den 3:1 Sieg der Sbornaja über Ägypten.

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