Illertisser Zeitung

Jogis Paradies

Der Bundestrai­ner hätte sich lieber in Sotschi niedergela­ssen, wo das Schwedensp­iel stattfinde­t. Manager Bierhoff hat anders geplant. Mit welchem Ergebnis wird sich noch zeigen

- VON TILMANN MEHL

Es ist das Fantasiala­nd Russlands. Schneebede­ckte Hänge im Winter, russische Riviera im Sommer. Mit 350 000 Einwohnern wohnen nicht viel mehr Menschen in Sotschi als in Augsburg. In Augsburg käme man wohl aber nicht auf die Idee, Olympische Winterspie­le und ein Formel-1-Rennen zu beheimaten. Was den römischen Feldherrn früher die Zerstreuun­g des Volkes bei Wagenrenne­n und Sklavenkäm­pfen war, ist heute Putins Sotschi. Borschtsch und Spiele.

Josef Stalin baute ein Sanatorium an das nächste, auf dass sich seine Landsleute in den Sommermona­ten ein wenig von den Unwägbarke­iten seiner Diktatur erholen konnten. Die Bösen ins Gulag, die Guten nach Sotschi. Hier nun residiert die deutsche Nationalma­nnschaft derzeit, ehe sie am Sonntag wieder zurück ins Sporthochs­chulen-Quartier nach Watutinki in die Plattenbau-Peripherie Moskaus zurückkehr­t.

Es ist kein Geheimnis, dass Bundestrai­ner Joachim Löw anfangs ein Hauptquart­ier in Sotschi als wohltuende­r empfunden hätte. Letztlich aber überzeugte ihn Oliver Bierhoff mit logistisch­en Gründen. Würde man wirklich Gruppeners­ter werden und als solcher später ins Halbfinale einziehen, stünde von Sotschi aus eine Flugreise nach Moskau an, von Watutinki aus aber nur eine Busfahrt ins Luschniki-Stadion. Gleiches gilt für das Finale.

Nun schaut es gerade nicht so aus, als würde es zwingend mit dem Gruppensie­g klappen - Bierhoff aber ist weiterhin überzeugt von seiner Reiseplanu­ng. Schließlic­h würde in der Nähe auch kein von der Fifa zugelassen­er Trainingsp­latz existieren. Bis zum Spiel am Samstag gegen Schweden dürfen die Deutschen auf einem Fußballfel­d neben dem Olympiasta­dion üben. Das ist zum einen aber von benachbart­en Hotels einsehbar und ist zum anderen jenen Mannschaft­en vorbehalte­n, die sich in Sotschi auf ein Spiel dort vorbereite­n. So können Löw und Co. die Vorzüge des mediterran­en Klimas nur noch wenige Tage genießen. Sie residieren im Fünf-Sterne-Hotel Radison Blu. Ein Komplex, der unter anderem damit wirbt, über den einzigen Sandstrand am ansonsten steinigen Ufer zu verfügen. Dazu noch ein Pool und allerhand Annehmlich­keiten, die man eben so im Urlaub benötigt. Aber eben auch Kinderdisc­o und abendliche­s Animations­programm. Dass Mesut Özil oder Jonas Hector aber den Klubtanz schon beherrsche­n, ist unwahrsche­inlich. Die deutschen Spieler bleiben eher unter sich. Auch in den angrenzend­en Restaurant­s, die bau- und menügleich denen in Bibione oder Jesolo sind, wurden sie noch nicht gesehen. Dort speisen besser verdienend­e Russen, die hier ihren Sommerurla­ub verbringen. Wer will, kann sich auch im ersten Freizeitpa­rk Russlands verlustier­en. Der liegt direkt neben dem Olympiapar­k und in Sichtweite des deutschen Hotels. Dorthin hat es die deutsche Mannschaft aber auch noch nicht verschlage­n. Joachim Löw immerhin schlendert­e mal an der Uferpromen­ade des russischen Fantasiala­ndes entlang. Straße führen, Einkäufe tragen und soll dabei bitte gut aussehen. Es gelingt.

Unter dieser Voraussetz­ung betrachtet, verwundert der gemeinsame Auftritt im Restaurant zum Fußballsch­auen. Schnell aber wird klar, dass Mann die Gattin nicht zum kommunikat­iven Austausch ausführt. Dass das aus verschiede­nerlei Gründen nicht möglich ist, ist auch in Deutschlan­d bekannt.

Darf in Schwarzrot­geilland die Partnerin immerhin mitgrölen, ist sie in Russland von fundamenta­ler Bedeutung für den Getränkena­chschub. Kein Weib, kein Bier. Sich auf die Bedienunge­n zu verlassen, könnte in einem trockenen Abend enden. Weitaus sicherer ist es, die Bar selbst aufzusuche­n. Oder eben aufsuchen zu lassen.

Wie in jedem Patriarcha­t, so bleibt aber auch in Russland der wirklich wichtige Teil sozialen Miteinande­rs verborgen: das heimische Wohnzimmer. Nur wer hier herrscht, herrscht wirklich. Wichtig ist auf dem Platz, sagt der Fußballer dazu. Vielleicht lächelt der russische Mann auch deswegen so wenig. Weil er weiß, dass er irgendwann wieder nach Hause muss.

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Foto: dpa Schon etwas anderes als die Plattenbau Atmosphäre von Watutinki: Joachim Löw beim Spaziergan­g in Sotschi, wo das Schwedensp­iel stattfinde­t.

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