Videobeweis: 99,3 Prozent richtige Entscheidungen
Die WM-Premiere des Videobeweises hat die Anzahl der Fehlentscheidungen nach Angaben der Fifa gesenkt. Ohne das Einschreiten der Video-Assistenten hätte es bei strittigen Szenen während der Vorrunde 95 Prozent korrekte Entscheidungen gegeben. Durch die Anwendung des Videobeweises sei diese Quote auf 99,3 Prozent gestiegen, sagte Pierluigi Collina als Chef der Fifa-Schiedsrichterkommission. Es seien während der 48 Gruppenspiele insgesamt 17 Vorfälle als offizieller Videobeweis untersucht worden, 14 Entscheidungen wurden dabei geändert. Insgesamt gab es 335 strittige Szenen, die die Video-Assistenten überprüften. Die Vielzahl dieser Vorfälle wurde durch sogenannte stille Überprüfungen geklärt. Die Video-Assistenten sind dabei in Funkkontakt zum Schiedsrichter auf dem Platz.
„Fußball ist ein schmutziger Sport“, wütete Michael Petrovic vor ein paar Jahren auf einer Pressekonferenz in Saitama am Rande Tokios. Bevor der Serbe mit österreichischem Pass nach Japan gekommen war, habe er so etwas nicht erlebt. „Hier ist es egal, ob es um alles geht oder um nichts. Es wird immer gleich gespielt.“Gerade hatten seine Urawa Red Diamonds am letzten Spieltag, scheinbar ohne Todeskampf, die japanische Meisterschaft verspielt. Vor versammelter japanischer Presse erklärte Petrovic mit bitterer Miene seine Vorstellung von Fußball: „Manchmal musst du drei Rote Karten bekommen, damit du am Ende gewinnst.“
Bei der WM in Russland hat den Japanern nun das Gegenteil dieser eher groben Philosophie geholfen. Als die Mannschaft am Donnerstag mit 0:1 gegen Polen verlor, zeitgleich Kolumbien 1:0 gegen Senegal gewann, standen Japan und Senegal mit vier Punkten, 3:3 Toren und einem Unentschieden im direkten Vergleich gegeneinander da. Also entschied die Fair-Play-Wertung, in der Japan mit vier Gelben Karten zwei Verwarnungen weniger kassiert hatte als Senegal. Erstmals in der WM-Geschichte zog eine Mannschaft dank seiner fairen Spielweise ins Achtelfinale ein.
Dass ausgerechnet Japan dieses Novum begründet, ist kein Zufall. Kaum ein Land der Welt lehnt das Verständnis von Fußball als schmutzigem Sport stärker ab. In Japan ist man stolz darauf, nicht nur auf das Endresultat zu achten, sondern auch auf den Weg dorthin.
Diese „japanische Art“, wie sie Patrioten gerne nennen, betrachtet Regeln nicht als etwas, das man ausreizen und notfalls überschreiten sollte, eher als allerletzte, mahnende Grenze des Möglichen. Böse Fouls sind in Spielen zwischen japanischen Mannschaften fast nicht zu sehen, wie ausländische Trainer in der J-League immer wieder erstaunt feststellen. Auch beim Schiedsrichter wird nicht reklamiert, die Presse diskutiert dessen Leistungen nicht.
In Japan rümpfte man dieser Tage die Nase über den Brasilianer Neymar, der bei jedem Körperkontakt gleich zu Boden fiel und seine Gegenspieler wie Schlachter aussehen ließ. In der zurückhaltenden, höflichen japanischen Gesellschaft funktioniert Fußball anders.
Allerdings waren es zuletzt nicht mehr nur Ausländer, die sich an diesem Stil stießen. Mit Fair Play gewinne man doch keine Titel, man müsse sich auch durchsetzen können, hieß es vermehrt in der Öffentlichkeit. Schließlich kam die japanische Nationalmannschaft, obwohl mit Leistungsträgern europäischer Topklubs bestückt, bei einer WM noch nie über ein Achtelfinale hinaus. Dass die „Samurai Blue“nun ausgerechnet dank Fairplay mit der Bestleistung voriger Turniere zumindest gleichziehen konnten, können sich die Puristen im Land endlich einmal im Recht sehen.
Beim letzten Gruppenspiel fanden die Japaner allerdings eine eher fragwürdige Interpretation von Fairplay. Als die Spieler auf dem Platz kurz vor Schluss erfahren hatten, dass ihre 0:1-Niederlage zum Weiterkommen genügen würde, wurde der Ball nur noch in den eigenen Reihen hin- und hergeschoben. Der Trainer Akira Nishino hatte deshalb auch Gewissensbisse. Seine Anweisung, den Fuß vom Gas zu nehmen, bezeichnete er später als „bedauerlich. Es fühlt sich so an, als hätte ich eine Entscheidung gegen mein Gewissen getroffen.“