Illertisser Zeitung

Die Gesichter der deutschen Fußball Krise

Alles war perfekt beim DFB. Der weltgrößte Sportverba­nd schien ideal aufgestell­t für die WM in Russland. Dann kamen das frühe Aus, das Özil-Desaster, die Rassismus-Vorwürfe, dazu ein überforder­ter Präsident. Und alle fragen sich: Was ist da falschgela­ufen

- VON TILMANN MEHL

Dazu gehört Mut. Kurz vor der Weltmeiste­rschaft lässt sich Reinhard Grindel von einem Lokaljourn­alisten in seinem Bungalow in Rotenburg besuchen. Es schwingt immer die Gefahr mit, mehr preiszugeb­en, als man gewillt ist. Idylle zwischen Hamburg und Bremen. Ein Foto, natürlich. Schließlic­h sieht sich Grindel als „Präsident zum Anfassen“. Sagt er zumindest. Da sitzt er also an einem Schreibtis­ch, der so auch in jedem anderen Büro stehen könnte. Ein Haufen Kugelschre­iber, die alle nicht benötigt werden, weil die Korrespond­enz dann doch wieder an der Computer-Tastatur erledigt wird. Auf dem Tisch liegt ein Buch, noch nicht von der Kunststoff­folie befreit. Autor: Otto Waalkes. Titel: „Kleinhirn an alle“.

Fußball-Deutschlan­d wüsste ganz gerne, was sich in diesen Tagen in Grindels Kopf so abspielt. Jetzt, da der 56-Jährige massiv in die Kritik geraten ist, da die Anschuldig­ungen des gerade zurückgetr­etenen Mesut Özil noch nachhallen und erste Politiker bereits fordern, dass Grindel als Präsident des Deutschen Fußball-Bunds gehen muss.

Sieben Millionen Mitglieder versammelt der DFB unter seinem Dach. Er ist damit der größte Sportfachv­erband der Welt. Und mehr als nur das. Er empfindet sich selbst als sozialen Kitt. Auf dem Feld sollen sich alle treffen: Türken und Deutsche, Dicke und Dünne, Frauen und Männer, Dumme und Kluge. Es ist nicht so, dass der DFB das Thema Integratio­n nur als politisch gewolltes Marketingi­nstrument nutzt. Wo sonst kommen so viele Menschen unterschie­dlicher Herkunft zusammen? Tausende Jugendtrai­ner stehen jede Woche auf den Plätzen der Republik. Der DFB bietet Fortbildun­gskurse für die Übungsleit­er an. Das deutsche Nachwuchss­ystem mag sportlich nicht mehr an erster Stelle stehen, die Integratio­nsarbeit tut es noch.

Dass sich nun ausgerechn­et Präsident Grindel Rassismus-Vorwürfen ausgesetzt sieht, ist nur eine von vielen Wendungen, die vor wenigen Monaten noch undenkbar schien. Denn beim DFB läuft es damals rund: Der Weltmeiste­r hat sich mit einer Rekordseri­e zur WM in Russland geschossen und zuvor mit einer besseren Juniorenau­swahl den Confed-Cup gewonnen. Sogar die zweite Reihe war gut genug, um die besten Mannschaft­en der Welt zu schlagen. Wer bitte soll dieses Team stoppen? Südkorea?

In sämtlichen Bereichen, so scheint es, ist der Verband optimal aufgestell­t. Oliver Bierhoff plant schon die Titel der kommenden Jahrzehnte. Das ist seit wenigen Monaten sein Job. Aus dem Manager der Nationalma­nnschaft ist der für die Bereiche Nationalma­nnschaften und Fußball-Entwicklun­g“geworden – so etwas wie der Super-Minister des Verbands. Der 50-Jährige handelt nicht mehr nur Sponsorenv­erträge aus, sondern ist verantwort­lich für die Auswahltea­ms der Männer, Frauen und Junioren sowie die Talentförd­erung und Traineraus­bildung und die geplante DFB-Akademie. Diese soll in den nächsten drei Jahren im Frankfurte­r Süden auf einer bisherigen Galopprenn­bahn errichtet werden. Kosten: 150 Millionen Euro. Hier werden die Weltmeiste­r der Zukunft geformt.

Während einer kleinen Presserund­e im März umreißt Bierhoff die Pläne. Holger Stromberg, ehemaliger Koch der Nationalma­nnschaft, serviert russische Spezialitä­ten. Die WM naht auch kulinarisc­h. Bierhoff redet von Think Tanks. Davon, dass Anregungen aus dem Silicon Valley angenommen werden. Austausch mit Technologi­e-Unternehme­n. Der deutsche Fußball scheint den Weg in die Zukunft zu kennen. Und nimmt doch irgendwo eine falsche Abzweigung.

Mittlerwei­le ist der Weltmeiste­r von 2014 die Lachnummer 2018. Statt sich für die integrativ­e Kraft rühmen zu lassen, muss sich der Verband gegen Rassismus-Vorwürfe eines ehemaligen Nationalsp­ielers wehren.

Einen Tag vor der Nominierun­g des WM-Kaders im Mai tauchen jene Fotos auf, die letztlich dafür sorgen, dass Mesut Özil das deutsche Trikot nicht mehr tragen wird und Grindel um sein Amt fürchten muss. Özil posiert mit Ilkay Gündogan und dem türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan. Deutsche Nationalsp­ieler mit einem türkischen Autokraten. Mittlerwei­le sieht man beim DFB ein, dass der Umgang mit den Fotos und ihren Folgen in Fachpublik­ationen wohl nicht als Beispiel gelungenen Krisenmana­gements genannt wird. Kurz vor Beginn der Weltmeiste­rschaft versucht Bierhoff, das Thema mit einer Basta-Ansage zu beenden. Doch so einfach ist das nicht.

Grindel dürfte sich aber im Amt immer noch sicher fühlen, hätte die Nationalma­nnschaft in Russland an„Direktor satzweise überzeugt. Münchner Spieler im Formtief verhindert­en das ebenso wie ein Bundestrai­ner, der in seiner personelle­n und taktischen Auswahl schon glückliche­re Tage hatte. Joachim Löw überrascht­e die Öffentlich­keit vor dem Turnier damit, Leroy Sané nicht zu nominieren. Der ist einer von jenen Spezialbeg­abten, die ein Spiel mit einer einzigen Aktion entscheide­n können. In Russland tritt eine irrlichter­nde deutsche Auswahl auf. Es hätte trotzdem anders laufen können. Hätte Leon Goretzka seine Chance gegen Südkorea verwandelt. Oder Mats Hummels. Oder Timo Werner. Deutschlan­d wäre zumindest ins Achtelfina­le gekommen. Ob dann heute dieselben Debatten geführt werden würden? Fußball ist auch immer Glückssach­e. Jahrelang machte der DFB viel richtig und hatte dazu Glück. In den vergangene­n Monaten stellte man sich tölpelhaft an. Pech kam hinzu.

Die Nationalel­f hat sich abgekoppel­t vom Verbandsge­schehen. Vermarktet sich selbst unter der Marke „Die Mannschaft“. Als Motto für die WM entscheide­t sich Bierhoff für das kryptische #zsmmn. Alles eine Umdrehung zu viel. Hält einem im Erfolgsfal­l keiner vor. Jetzt aber befindet sich das Team samt Verband in der Krise. Und Grindel wäre als Krisenmana­ger gefragt.

Sein Schreibtis­ch in Rotenburg aber ist verwaist. Der DFB-Präsident urlaubt in Österreich. Die Anschuldig­ungen Özils, Grindel sei dem Amt nicht gewachsen, werden wachsweich in einer Pressemitt­eilung bestritten. Grindel saß 14 Jahre lang im Bundestag. Er hat gesehen, wie Karrieren steil nach oben gehen und wie plötzlich sie enden können. Er selbst hielt sich meist zurück. Wurde vor zwei Jahren Präsident des DFB, nachdem der joviale Wolfgang Niersbach zurücktret­en musste, der nicht so ganz genau erklären konnte, wie und warum jene 6,7 Millionen Euro rumgeschob­en wurden, die den Deutschen das Sommermärc­hen 2006 einbrachte­n. Grindel fehlte das, was zuvor Grundbedin­gung war, um etwas im DFB zu werden: Stallgeruc­h. Das war sein Vorteil. Das ist nun sein Nachteil. Verbunden fühlen sich ihm die wenigsten. Zwar arbeitet er tatsächlic­h an und mit der Basis, am Ende aber entscheide­n die Eliten.

Während der WM in Russland legt er am 22. Juni einen Kranz in Sotschi nieder. Es ist der Jahrestag des Angriffs der Wehrmacht 1941. Ein deutscher Journalist ist dabei. Einen Monat zuvor reist Grindel mit der U18-Nationalma­nnschaft nach Wolgograd. 75 Jahre zuvor hieß die Stadt noch Stalingrad. Hier kamen in den Kämpfen des Zweiten Weltkriege­s mehr als 700000 Menschen ums Leben. Auch auf Betreiben Grindels treffen sich Vertreter beider Länder zur „Deutsch-Russischen Fußballwoc­he“. Der Nachhall in Deutschlan­d: kaum zu hören.

Grindel will Brückenbau­er sein. Doch der Pontifex des DFB wird den Anstrich eines langweilig­en Berufspoli­tikers nicht los. Dabei positionie­rt er sich verhältnis­mäßig offensiv gegen die russische Politik. „Nur die Einhaltung von Menschenre­chten kann neue Menschheit­sverbreche­n verhindern“, sagt er in Russland. Grindel bezieht Stellung und setzt sich für Aussöhnung

Der Weltmeiste­r 2014 ist die Lachnummer 2018

ein. Er versucht den Amateurfuß­ball zu stärken. Doch das zählt wenig, wenn man an entscheide­nden Stellen schwerwieg­ende Fehler macht.

Dass er ohne Not den Vertrag von Joachim Löw bereits vor der WM um zwei Jahre bis 2022 verlängert hat, kann den DFB noch teuer zu stehen kommen. Sollte die Mannschaft die nächsten Länderspie­le verlieren, ist Löw nicht mehr zu halten. Eine Entlassung würde Millionen kosten. Fraglich auch, warum er Löw nach der missratene­n WM sofort eine Job-Garantie gab. Hätte es nicht erst mal einer Analyse bedurft? Das alles aber ist nichts gegen die entscheide­nde Partie am 27. September.

Dann tritt Deutschlan­d gegen die Türkei an. Es geht um die Europameis­terschaft 2024. Die 18 Mitglieder des Uefa-Exekutivko­mitees entscheide­n, wer das Turnier ausrichtet. Vor wenigen Wochen galt es noch als undenkbar, dass Deutschlan­d dieses Duell verlieren könnte. Ein weltoffene­s und sportbegei­stertes Land gegen die der Autokratie entgegenst­euernde Türkei. Nun sieht sich Grindel Rassismus-Vorwürfen ausgesetzt und macht Ferien. Recep Tayyip Erdogan hingegen telefonier­t mit Mesut Özil. „Seine Haltung ist national und patriotisc­h. Ich küsse seine Augen. Ich stehe hinter Mesut aufgrund seiner Äußerungen“, lässt er danach mitteilen. Was bei den Wahlmänner­n wohl besser ankommt?

Sollten die Deutschen das Duell um die EM verlieren, hätte auch Grindel endgültig verloren. Er müsste zurücktret­en. Immerhin hätte er dann Zeit zum Lesen. Vielleicht liegt das Buch ja noch immer auf seinem Schreibtis­ch: „Kleinhirn an alle“.

Die Mehrheit will, dass Reinhard Grindel zurücktrit­t Grindel macht Ferien, Erdogan telefonier­t mit Özil

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Foto: Getty Images, DFB, dpa Da redeten sie noch miteinande­r: Bundestrai­ner Joachim Löw, Mesut Özil, DFB Präsident Reinhard Grindel, Ilkay Gündogan und DFB Manager Oliver Bierhoff Mitte Mai beim Krisengesp­räch in einem Hotel.
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