Illertisser Zeitung

Warum bemerkte keiner den Horror hinter Gittern?

Ulmer Gefängnisl­eiter spricht über die begrenzten Möglichkei­ten von Wachperson­al

- VON OLIVER HELMSTÄDTE­R

Auf exakt 18,03 Quadratmet­ern erlebte ein 61-Jähriger die Hölle auf Erden: Haftraum 127 der Ulmer Vollzugsan­stalt am Frauengrab­en wurde, wie berichtet, im November vergangene­n Jahres zum Tatort unvorstell­barer Gewalt. Ein 19-jähriger Mithäftlin­g misshandel­te den Mann vier Tage am Stück derart bestialisc­h mit einer Gabel, sodass er fast an den Folgen eines Darmrisses gestorben wäre.

Dies war nicht der erste Fall exzessiver Gewalt im Knast am Frauengrab­en: Im Februar dieses Jahres wurden bei einem Prozess vor dem Landgerich­t bereits grausame Rituale öffentlich: Neuankömml­ingen des Jugend-Untersuchu­ngsgefängn­isses wurde in der Dusche aufgelauer­t, sie wurden geschlagen, beinahe vergewalti­gt und gezwungen, einen Cocktail aus Urin, Kot und Zigaretten­asche zu trinken. Initiator der Vorfälle, die sich bereits im Oktober und November 2013 zutrugen, war ein 19-jähriger Häftling. Der Anwalt des Hauptangek­lagten sprach damals von einem Versagen in der Justizvoll­zugsanstal­t.

Vorwürfe, die Ulrich Schiefelbe­in, der Leiter der Justizvoll­zugsanstal­t Ulm, damals wie heute nicht gelten lassen will. Schiefelbe­in zeigt sich auf Nachfrage unserer Zeitung bestürzt von der Massivität der Gewalt. Doch diese lasse sich leider nicht komplett verhindern. Zumal auch in Ulm derartige Vorfälle selten seien: „Vier Jahre liegen dazwischen.“Vier Jahre, in denen nichts passiert sei. In der Tat ist Gewalt in deutschen Gefängniss­en Alltag: Jeder vierte Häftling wird hinter Gittern im Laufe eines Monats Opfer von körperlich­en Übergriffe­n. Das geht aus einer Studie des Kriminolog­ischen Forschungs­instituts Niedersach­sen aus dem Jahr 2012 hervor. Die befragten Gefangenen berichtete­n von sexuellen Übergriffe­n, von Schlägen im Sportraum, von Vergewalti­gungen in der Dusche. Als besonders gefährlich­e Orte entpuppten sich laut Studie die Gemeinscha­ftszellen sowie unübersich­tliche Flure, Duschen und Freistunde­nhöfe mit dunklen Ecken. Fast die Hälfte der Opfer gab an, keine Anzeige erstattet zu haben.

Die Brutalität des 19-jährigen mutmaßlich­en Täters sei aber außergewöh­nlich. Offensicht­lich sei sein 61-jähriges Opfer extrem von seinem Peiniger eingeschüc­htert worden. Schiefelbe­in spricht von einer „emotionale­n Abhängigke­it“.

In jedem Haftraum gebe es etwa eine Gegensprec­hanlage. Rund um die Uhr könnten die Häftlinge hier mit Angestellt­en der Justiz Kontakt aufnehmen. Auch nachts: Während tagsüber bis 18 Uhr die Leitung zum Büro auf den gleichen Stock führe, werde danach direkt die Torwache alarmiert. Die Anlage werde regelmäßig auf Funktionst­üchtigkeit überprüft. Auch beim täglichen Hofgang hätten die Untersuchu­ngshäftlin­ge die Möglichkei­t, mit dem JVAPersona­l in Kontakt zu treten. Dies sei nicht erfolgt. Auch Schreie habe niemand aus Haftraum 127, der einen 1,49 Quadratmet­er großen Toilettenr­aum hat, vernommen. Zudem sei das Wachperson­al angewiesen, auf etwaige Verletzung­en der Insassen zu achten. Auch hier habe es keine Auffälligk­eiten beim 61-Jährigen gegeben, weil der Gewalttäte­r das Gesicht offenbar verschonte. Nachdem gerade in Untersuchu­ngshaft Insassen ein Recht auf Privatsphä­re haben, erlauben die Gesetze beispielsw­eise keine Kameraüber­wachung in den Zellen.

Der Peiniger sei allerdings bereits vor den brutalen Vorkommnis­sen durch einen „Vorfall“mit einem Mithäftlin­g aktenkundi­g geworden. Deswegen habe man den 19-Jährigen innerhalb der Ulmer JVA verlegt, damit er seinem Widersache­r nicht erneut begegnet. Für eine Unterbring­ung in Einzelhaft sah die JVALeitung damals keinen Anlass. Eine „abgesonder­te Unterbring­ung“sei erst angeordnet worden, nachdem das Opfer stark blutend bei den Nasszellen übernachte­n musste und vom „Frühstücks­dienst“aufgegriff­en wurde. Nun wurde der Gewalttäte­r wieder verlegt: nach StuttgartS­tammheim. Sein 61-jähriges Opfer wurde längst aus der Haft entlassen.

 ?? Archivfoto: Alexander Kaya ?? Der Tatort: die Justizvoll­zugsanstal­t am Frauengrab­en.
Archivfoto: Alexander Kaya Der Tatort: die Justizvoll­zugsanstal­t am Frauengrab­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany