Illertisser Zeitung

Warum Heiko Maas in Ankara selbstbewu­sst auftreten kann Leitartike­l

In den sechs Monaten seit der Regierungs­bildung in Berlin hat sich die Türkei fundamenta­l verändert. Weil Erdogan sein Land isoliert hat, braucht er Verbündete

- Fer@augsburger allgemeine.de

Alles ist anders. So schnell kann es in der Politik gehen. Wenn Außenminis­ter Heiko Maas ein knappes halbes Jahr nach seiner Vereidigun­g am heutigen Mittwoch zu seinem Antrittsbe­such in die Türkei fliegt und sich in Ankara mit Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan, seinem Amtskolleg­en Mevlut Cavusoglu sowie Parlaments­präsident Binali Yildirim trifft, kommt er in ein Land, das sich in diesen sechs Monaten stark verändert hat. Und damit haben sich auch die Grundbedin­gungen für das komplexe, schon immer nicht einfache, zuletzt aber äußerst angespannt­e deutsch-türkische Verhältnis fundamenta­l verändert.

Formal ist der starke Mann der Türkei, Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan, stärker als jemals zuvor. Er hat die Verfassung des Staates nach seinen Wünschen und Vorstellun­gen umgebaut, ein Präsidials­ystem etabliert, das Parlament entmachtet und die freie Presse de facto abgeschaff­t. Erdogans Wort ist Gesetz, Widerspruc­h wird nicht geduldet, wie die systematis­che Verhaftung von kritischen Journalist­en belegt. Erdogan steht auf dem Höhepunkt seiner Macht.

Nach außen aber sieht die Lage völlig anders aus. Da ist der starke Mann am Bosporus so schwach wie noch nie. Außenpolit­isch hat sich die Türkei ins Abseits manövriert. Durch seine Eskapaden und sein autoritäre­s Auftreten hat Erdogan die Europäer brüskiert, gleichzeit­ig sich mit US-Präsident Donald Trump überworfen, sich im Syrien-Konflikt mit dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin angelegt und durch seine Unterstütz­ung Katars Saudi-Arabien provoziert. Zur politische­n Isolation kommt die wirtschaft­liche Krise, die türkische Lira befindet sich im freien Fall, die Wirtschaft des Landes steht wegen der hohen Auslandssc­hulden vor dem Kollaps.

Günstiger könnte daher der Termin für den Antrittsbe­such des deutschen Außenminis­ters kaum sein. Die Zeiten, in denen Erdogan öffentlich Deutschlan­d kritisiert­e, unpassende Nazi-Vergleiche anstellte, Journalist­en mit doppelter Staatsbürg­erschaft ohne Anklagesch­rift einsperren ließ und gegen den Satiriker Jan Böhmermann klagte, sind längst vorbei. Er musste einsehen, dass er auf der internatio­nalen Bühne auf Dauer Verbündete braucht. Deutschlan­d als wichtiger Handels- wie Nato-Partner und das Land, in dem die meisten Auslandstü­rken leben, spielt dabei eine zentrale Rolle.

Ankara braucht Berlin. Die Charme-Offensive ist in vollem Gange. In Kürze kommt Erdogan nach Deutschlan­d, ebenso sein Schwiegers­ohn, Finanzmini­ster Berat Albayrak. In dieser Situation kann Maas selbstbewu­sst auftreten und auf die Einhaltung der Menschenre­chte sowie die Freilassun­g der sieben Deutschen pochen, die noch immer inhaftiert sind.

Umgekehrt braucht aber auch Berlin Ankara. So war das bei der Flüchtling­skrise und der Bekämpfung der IS-Milizen, so wird es bei der politische­n Neuordnung und dem Wiederaufb­au Syriens sein, zudem ist die Türkei ein wichtiger Handelspar­tner. An einer straucheln­den Türkei, gar einem Machtvakuu­m an der Schnittste­lle zwischen Europa und der Arabischen Halbinsel kann die Bundesregi­erung kein Interesse haben, würde dies doch die gesamte Region weiter destabilis­ieren.

Und doch ist alles anders. Die jüngste Vergangenh­eit kann Erdogan nicht ungeschehe­n machen, die Freilassun­g von Deniz Yücel oder Mesale Tolu beseitigt das erlittene Unrecht nicht, die unsägliche­n Nazi-Vergleiche sind nicht vergessen. Das hat sein Ansehen nachhaltig ramponiert. Zu Hause ein Sultan, im Ausland ein Bittstelle­r – Schein und Sein, Anspruch und Wirklichke­it könnten weiter nicht auseinande­rklaffen.

Zu Hause ein Sultan, im Ausland ein Bittstelle­r

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Zeichnung: Haitzinger
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