Illertisser Zeitung

Der zweifache Missbrauch

Katholisch­e Gläubige stehen gegen die jahrzehnte­lange Vertuschun­g von Straftaten des Klerus auf

- VON KARL DOEMENS New York Times

Normalerwe­ise reden die Gläubigen während eines katholisch­en Gottesdien­stes nur, wenn der Priester sie dazu auffordert. Doch als sich der Washington­er Kardinal Donald Wuerl am vorigen Sonntag im grünen Messgewand an die Gemeinde wandte und um „Vergebung für meine Fehleinsch­ätzungen“bat, war das anders. „Sie sollten sich schämen!“, rief ein aufgebrach­ter Zuhörer von der Kirchenban­k. Eine andere Besucherin drehte dem Würdenträg­er mit verschränk­ten Armen demonstrat­iv den Rücken zu.

Seit die Missbrauch­saffäre mit schockiere­nden Enthüllung­en und Intrigen beinahe täglich für neue Schlagzeil­en sorgt, ist es mit der Einheit der katholisch­en Kirche in den USA endgültig vorbei. Schon lange stehen sich liberale und traditiona­listische Gläubige in den Fragen der Migration, des Klimawande­ls, der Todesstraf­e und der Sexualmora­l unversöhnl­ich gegenüber. Doch die Aufdeckung massenhaft­er sexueller Übergriffe und Vergewalti­gungen durch Priester in den vergangene­n Jahrzehnte­n hat nach Einschätzu­ng der zusammen mit den aktuellen Anschuldig­ungen des Erzbischof­s Carlo Maria Viganò einen „regelrecht­en Bürgerkrie­g“unter Amerikas 77 Millionen Katholiken entfacht.

Im Zentrum der Affäre steht der heute 88-jährige Ex-Kardinal Theodore McCarrick, der bis 2006 Erzbischof von Washington war. In früheren Funktionen soll er in den 1980er Jahren systematis­ch ihm untergeben­e Seminarist­en sexuell ausgebeute­t und auch Minderjähr­ige missbrauch­t haben. Vor wenigen Wochen musste er auf Druck von Papst Franziskus seine Kardinalsw­ürde zurückgebe­n. Sein Amtsnachfo­lger Wuerl war 18 Jahre lang Bischof von Pittsburgh im Bundesstaa­t Pennsylvan­ia gewesen, bevor er 2006 in die US-Hauptstadt wechselte. Dem 77-Jährigen werden keine Missbrauch­svorwürfe gemacht. Er steht aber wegen möglicher Ver- in der Kritik. Staatsanwa­ltschaftli­che Ermittlung­en haben ergeben, dass sich rund 300 Priester in Pennsylvan­ia an Kindern und Jugendlich­en vergangen haben. Meistens wurden die Opfer zum Schweigen überredet und die Täter in eine andere Gemeinde versetzt.

Die beiden Briefe mit schweren Vorwürfen gegen Papst Franziskus, die Erzbischof Viganò veröffentl­icht hat, befeuern den Skandal neu. Von 2011 bis 2016 war Viganò in Washington als Nuntius des Vatikans stationier­t. Er wirft nicht nur Franziskus vor, „die abscheulic­hen und frevelhaft­en Verhaltens­weisen“von McCarrick gedeckt zu haben, sondern beschuldig­t auch Wuerl. Schon um das Jahr 2010 soll nämlich ExPapst Benedikt dem Serientäte­r McCarrick ein zurückgezo­genes Leben in Gebet und Buße ohne öffentlich­e Auftritte auferlegt haben. Angeblich wusste Wuerl davon und schwieg, obwohl der Kardinal durch die Welt reiste und Vorträge hielt.

Die Auseinande­rsetzung geht weit über das Persönlich­e hinaus: Wuerl gehört zum liberalen Flügel der Kirche. In seiner durch den Zwischenru­f unterbroch­enen Pretuschun­g digt warnte er vor einer „konzertier­ten Aktion“traditiona­listischer Kräfte gegen Papst Franziskus. Viganò ist ein Konservati­ver, der Franziskus bei dessen USA-Besuch 2015 angeblich ohne dessen Wissen mit einer ultrarecht­en Anti-HomoEhen-Aktivistin zusammenbr­achte und deswegen später geschasst wurde. Außerdem soll er selbst Missbrauch­sfälle vertuscht haben. Trotzdem wird er von vielen USWürdentr­ägern unterstütz­t. So erklärte der Bischof von Madison in Wisconsin, Robert Morlino, er sei von der „Aufrichtig­keit und untadelige­n Integrität“des Anklägers überzeugt.

Inzwischen haben mehr als 80 000 Gläubige eine Online-Petition zur Abberufung von Wuerl unterzeich­net. Wuerl habe „nicht die moralische Standhafti­gkeit gezeigt“, übergriffi­ge Priester aus dem Amt zu entfernen, argumentie­rt die Republikan­erin Winnie Obike, die den Aufruf initiiert hat. So wird die Missbrauch­saffäre von der vergiftete­n politische­n Auseinande­rsetzung in den USA überlagert. Traditiona­listische Katholiken machen schwule Netzwerke und die Toleranz des Papstes gegenüber Homosexuel­len für die Verbrechen verantwort­lich. „Das ist ein Schwulen-Skandal“, poltert Pat Buchanan, der erzkonserv­ative Ex-Berater von Ronald Reagan. Bewerber müssten untersucht werden: „Solchen mit homosexuel­len Neigungen muss gesagt werden, dass ihnen das Priesteram­t nicht offensteht.“

 ?? Foto: Chip Somodevill­a, afp ?? Erzbischof Carlo Maria Viganò hat schwere Vorwürfe gegen den Papst erhoben. Er beschuldig­t Franziskus, den früheren Kardinal Theodore McCarrick gedeckt zu haben, der systematis­ch Minderjähr­ige missbrauch­t haben soll.
Foto: Chip Somodevill­a, afp Erzbischof Carlo Maria Viganò hat schwere Vorwürfe gegen den Papst erhoben. Er beschuldig­t Franziskus, den früheren Kardinal Theodore McCarrick gedeckt zu haben, der systematis­ch Minderjähr­ige missbrauch­t haben soll.

Newspapers in German

Newspapers from Germany