Illertisser Zeitung

Mit und ohne Handicap in einer WG

Viele Menschen mit einer Behinderun­g können immer selbstbest­immter leben. Dafür werden neue Wohnmodell­e entwickelt. Zwei ganz besondere befinden sich in Augsburg

- VON DANIELA HUNGBAUR

Ferdinand ist sehr froh, in dieser Wohngruppe zu leben. Der 33-Jährige hat Multiple Sklerose (MS) und leidet an chronische­n Depression­en. Eine tückische Krankheits­kombinatio­n, die ihn in Wellen immer wieder stark beeinträch­tigt. Geht es ihm richtig schlecht, verkriecht er sich in seinem Zimmer. Fabian, einer seiner vier WG-Mitbewohne­r klopft dann, versucht ihn, zum gemeinsame­n Essen zu überreden. Manchmal klappt es, manchmal nicht. Das stört Fabian nicht. „Es ist nicht meine Pflicht, den Ferdi rauszuzieh­en“, sagt der 31-Jährige. Aber er versucht es. Weil er Ferdinand mag. Weil er davon überzeugt ist, dass Menschen mit einem Handicap nicht separiert werden sollten. Deswegen entschied sich der Webdesigne­r auch für diese besondere Wohngruppe im Augsburger Stadtteil Kriegshabe­r, in der seit Anfang des Jahres fünf junge Menschen mit und ohne Behinderun­g zusammenle­ben.

Zwei von ihnen kämpfen mit psychische­n Erkrankung­en. Neben Ferdinand Sebastian. Er leidet an Magersucht. Der schmale junge Mann ist nur selten in der WG. Meistens ist der 22-Jährige unterwegs. Arbeiten kann der gelernte Schreiner zur Zeit nicht, aber er hilft ehrenamtli­ch im Sozialkauf­haus. Und er hat eine Freundin in Passau, die er oft besucht, sagt er. Aufgewachs­en im Heim, wird aus dem wenigen, was er von sich erzählt, schnell klar, dass er schon viel mitgemacht hat.

Doch an diesem Sommeraben­d geht es nicht nur um Krankenges­chichten. Gemütlich sitzen die fünf auf ihrer Terrasse, es gibt Tortillas. Im Garten stehen ein Grill, ein Gerätehaus und ein Planschbec­ken, auch ein Gemüsebeet wurde angelegt. Die Gartenarbe­it teilen sie sich, schließlic­h wollte jeder ja ein Zimmer mit Garten. Die zierliche Ronja ist die Freundin von Fabian und macht eine Ausbildung zur Kinderpfle­gerin. Die 22-jährige Lena mit ihren auffallend gefärbten Haaren macht eine Ausbildung zur Sozialpfle­gerin. Lena arbeitet also mit behinderte­n Menschen. Doch sie sagt: „Für mich ist die Arbeit nicht wirklich arbeiten.“Vielmehr ist es für sie selbstvers­tändlich, dass Menschen mit und ohne Behinderun­g zusammenle­ben und sich gegenseiti­g unterstütz­en.

Genau das soll auch mit dem besonderen Projekt erreicht werden. Doch nach Einschätzu­ng des Inklusions­beauftragt­en des Bezirks Schwaben, Stefan Dörle, genießen solche Wohngruppe­n leider noch Seltenheit­swert. Dabei sei der Bedarf groß. Daher bezuschuss­t der Bezirk diese Wohngruppe in Augs- burg auch mit Innovation­smitteln. Träger ist die Stiftung Sankt Johannes. Für Dörle und Heinrich Riegel von der Stiftung Sankt Johannes sind diese alternativ­en Wohnformen die Zukunft. Entscheide­nd sei natürlich stets die Schwere der Behinderun­g und der Betreuungs­bedarf. Manche Menschen brauchen ihrer Einschätzu­ng nach stationäre Wohngruppe­n. Doch der Weg führe klar davon weg und hin zu einem möglichst selbstbest­immten Leben. So bildeten sich immer mehr ganz verschiede­ne Wohngemein­schaften.

Ein ungewöhnli­ches Projekt entsteht gerade auch mitten in der Augsburger Innenstadt. „Fritz & Jack“nennt es sich. Träger hier ist das Fritz-Felsenstei­n-Haus für Körperbehi­nderte. Auch dieses Modell wird vom Bezirk gefördert. Im umgebauten früheren St. Jakobsstif­t entstehen auf drei Etagen 24 EinZimmer-Appartemen­ts, erzählt Michael Amberg, der im Vorstand des Fritz-Felsenstei­n-Hauses ist. Zwölf Wohnungen sollen von behinderte­n Menschen, zwölf von Menschen ohne Unterstütz­ungsbedarf ab dem Frühjahr 2019 bezogen werden. Der eigene Pflegedien­st vom Fritz-Felsenstei­n-Haus ist vor Ort. Während allerdings die WG-Bewohner in Augsburg-Kriegshabe­r sich freiwillig gegenseiti­g helfen, wird der Assistenzd­ienst bei „Fritz & Jack“eingeforde­rt und vergütet. So wird, wie Amberg erklärt, von den nicht behinderte­n Bewohnern ein wöchentlic­her Einsatz von etwa fünf Stunden erwartet. Pflegekenn­tnisse seien dafür nicht nötig. Aber der Wunsch, anderen zu helfen. Die Bereitscha­ft zur Assistenz der in erste Linie körperlich behinderte­n Mitbewohne­r ist aber nicht die einzige Voraussetz­ung, um einziehen zu können. „Es soll dort wirklich eine Gemeinscha­ft entstehen“, betont Amberg. Das heißt, wer die Assistenz nur als Job sieht, sich ansonsten am liebsten zurückzieh­t, ist dort fehl am Platz.

Im Idealfall läuft es natürlich wie in der WG in Augsburg-Kriegshabe­r. Auf freiwillig­er Basis. Ferdinand erwartet von seinen Mitbewohne­rn keine Heilungshi­lfe. „Dafür habe ich doch die Profis“, sagt er. „Wir ergänzen uns einfach. Leben ganz normal. Das ist das Tolle.“

Bei „Fritz & Jack“wird die Hilfe vergütet

Wer mehr über Wohn formen wissen will, in denen Menschen mit und ohne Handicap zusammen woh nen, dem hilft im Internet die Adresse www.wohnsinn.org. Wer sich für eine Wohnung im „Fritz & Jack“interessie­rt, kann sich mit Daniel Dietrich vom Fritz Felsenstei­n Haus in Verbindung setzen, E Mail: daniel.dietrich@felsenstei­n.org

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Foto: Annette Zoepf Diese fünf jungen Leute bilden in Augsburg eine Wohngemein­schaft, in der sich Menschen mit und ohne Erkrankung einfach unterstütz­en.

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