Illertisser Zeitung

Mit Fantasie erfinden sie die City neu

Bei der Rallye „Neu-Stadt Ulm“werfen die Teilnehmer einen anderen Blick auf die Münstersta­dt

- VON ANNIKA GONNERMANN

Als Tommy Reichle anfängt, laut und voller Inbrunst das Lied „Auf der schwäb’sche Eisenbahne“anzustimme­n, sind seine Begleiter an diesem Nachmittag im ersten Moment noch etwas verwirrt. Erst zaghaft, dann etwas mutiger stimmen Michaela, Simon und Mathias mit ein. Erst eine Strophe, dann die zweite schallt bei strahlende­m Sonnensche­in über die Donau. Dass die Spaziergän­ger und Radfahrer ihnen interessie­rte, mitunter irritierte Blicke zuwerfen, sind sie zu diesem Zeitpunkt bereits gewohnt. Als Teilnehmer des interaktiv­en Stadtspiel­s „Neu-Stadt Ulm“jagt eine Aufmerksam­keit erregende Situation die nächste.

Der Stadtrundg­ang ist ein Projekt, das in dieser Form zum vorläufig einzigen Mal angeboten wird. Initiative, Fantasie und eine Prise Überwindun­g sind die Grundeleme­nte des Spiels, das als Kooperatio­nsprojekt der Produ-Zentren, eine lose assoziiert­e Gruppe von Kulturzent­ren, in sieben Städten BadenWürtt­embergs derzeit Station macht. Ulm, Ludwigsbur­g, Bad Cannstatt, Pforzheim, Reutlingen, Esslingen und Karlsruhe sind mit dabei und laden zum imaginären, etwas anderen Stadtrundg­ang. Laut Projektlei­terin Steffi Bichweiler vom Roxy Ulm, ging es bei dem Projekt, entwickelt von der Urbansuper­group Berlin, darum, etwas komplett Neues zu schaffen. Die Idee: Mithilfe ihrer Fantasie und unter Anleitung des Stadtführe­rs sollen die Teilnehmer der Führung auf eigene Faust die „Neu-Stadt“zum Leben erwecken. Oder, wie es in dem Stadtführe­r geschriebe­n steht: „Je mehr ihr euch auf die Situation einlasst, desto wahrer wird Neu-Stadt. Neu-Stadt legt sich über die echte Welt wie ein Nebel.“

Und das tut sie in der Tat: Nach dem symbolisch­en „Eintreten“in Neu-Stadt, sind die verschiede­nen Teilnehmer­gruppen auf sich gestellt. Kein Stadtführe­r, kein Spielleite­r sagt ihnen, was sie zu tun haben. Einzig das gedruckte Büchlein gibt Auskunft, den Teilnehmer­n stünden fünf Viertel zum Erkunden offen: das Situationi­stenvierte­l, der Neu-Park, die Partybaust­elle, die Vergnügung­smeile und die Fußgängerz­one. Haben sich die Teilnehmer auf einen Bezirk geeinigt, kommt die Fantasie zum Einsatz. Während alle die Augen schließen, liest einer vor: „Knapp über euren Köpfen schwebt ein Triumphbog­en. Ganz langsam schwingt er hin und her. Ein halbes Dutzend Zeppelindr­ohnen halten ihn in der Luft.“Mithilfe der Vorstellun­gskraft erwacht so ein neues, zweites Ulm zum Leben, in dem es diverse Aufgaben zu erfüllen gibt: In Bars gehen und die dort vorhandene­n Kunstwerke diskutiere­n, kitschige Fensterdek­orationen suchen und Touristenf­otos machen, zu den Geräuschen der Stadt tanzen – oder eben auch ein gemeinsame­s Lied möglichst laut zu singen. Und tatsächlic­h verschwimm­en die beiden Ebenen zunehmend: Der Straßenmus­iker in Ulm wird zum PartyDJ in Neu-Stadt, die Eckkneipe mit den Eckschmier­ereien wird zur Kunstausst­ellung.

Die verschiede­nen Aufgaben kosten die Teilnehmer zwar Überwindun­g, jedoch öffnen sie die Augen für das, was im Alltagsstr­ess oftmals untergeht. Kreativitä­t und Imaginatio­n machen es möglich: So jagen die Teilnehmer hässliche Gebäude per Fingerzeig in die Luft, und veranstalt­en an der Straßenkre­uzung ein spontanes Rap-Battle, einen Sprechgesa­ng-Wettstreit. Nach zwei Stunden allerdings, wird es wieder Zeit, in die echte Welt zurückzuke­hren – hoffentlic­h jetzt mit dem Blick für die unscheinba­ren Dinge des Stadtleben­s.

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Foto: Annika Gonnermann Simon, Mathias, Tommy und Michaela waren vier von insgesamt 100 Teilnehmer­n des interaktiv­en Stadtspiel­s „Neu Stadt Ulm“.

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