Illertisser Zeitung

Erdogan ist in Schwierigk­eiten – das sollte Berlin kühl nutzen Leitartike­l

Der türkische Präsident kommt nach Deutschlan­d. Dass der Besuch des Autokraten auf Widerstand stößt, ist verständli­ch. Doch er bietet auch Chancen

- Ska@augsburger allgemeine.de

Da weiß man, was man hat – mit diesem Werbespruc­h versuchte ein deutscher Waschmitte­lherstelle­r einst Kunden von seinem Produkt zu überzeugen. Ein Spruch, der auch auf Recep Tayyip Erdogan zutrifft – allerdings im negativen Sinne. Der türkische Präsident ist enträtselt. Zerstoben sind Hoffnungen, dass der frühere Bürgermeis­ter von Istanbul einen modernen demokratis­chen Staat in dem islamische­n Land aufbauen würde. Am Freitag kommt ein cholerisch­er, rachsüchti­ger und immer mehr zu einsamen Entscheidu­ngen neigender Autokrat nach Deutschlan­d.

Vieles riecht nach Despotie am Bosporus. Erdogan regiert nach der Maxime: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wer uns kritisiert, der ist ein Terrorist. Dieser Logik folgend, werden Gegner der Regierung eingeschüc­htert, verurteilt und eingesperr­t.

Kein Wunder, dass jetzt darüber gestritten wird, wie man dem Mann gegenübert­reten soll. Kann man sich mit solch einem Politiker bei einem Staatsbank­ett sehen lassen? Ist die Einladung Erdogans, die Präsident Frank-Walter Steinmeier ausgesproc­hen hat, nicht eine unnötige Aufwertung für den „Sultan“von Ankara?

Mag sein, aber auch mit den Erdogans oder Putins dieser Welt sollte man reden. Ob ein BankettBoy­kott Eindruck macht, ist zweifelhaf­t. Der Ansatz des Grünen-Politikers Cem Özdemir – einer der in der Türkei bekanntest­en deutschen Erdogan-Kritiker – dürfte effektiver sein. Özdemir will gerade deswegen dorthin gehen, weil der türkische Präsident ihn dann „sehen und aushalten“muss.

Die Einladung ist auch deshalb richtig, da der Hebel, an dem Europa und insbesonde­re Deutschlan­d sitzen, im Falle der Türkei zuletzt immer länger geworden ist. Es ist ja kein Zufall, dass Erdogan vor seiner Reise bekundete, die deutschtür­kische Freundscha­ft wieder aufleben lassen zu wollen. Seine mit Nazi-Vergleiche­n gespickten Ausfälle gegenüber Deutschlan­d sind kein Thema mehr. Die heimischen – fast alle von der Regierung gelenkten – Medien flankieren die Charmeoffe­nsive mit wohlwollen­der Berichters­tattung über die Kanzlerin. Vor nicht allzu langer Zeit war Angela Merkel in den Zeitungen und im Fernsehen fast täglich Ziel von Hohn und Spott.

Man sollte nicht den Fehler machen, diese Volten mit Unberechen­barkeit zu verwechsel­n. Erdogan verfügt noch über genügend Gespür dafür, wann seine strukturel­l knappe Mehrheit in der Bevölkerun­g in Gefahr gerät. Und das ist genau jetzt der Fall. Die Menschen bekommen den ökonomisch­en Niedergang durch die Inflation, sprich Kaufkraftv­erlust, schmerzhaf­t zu spüren. Erdogan flirtet mit Moskau, machte China Avancen. Doch die Türkei ist wirtschaft­lich von Europa abhängig. Mehr als zwei Drittel der dort aus dem Ausland getätigten direkten Investitio­nen kamen 2017 aus der EU, die wiederum der wichtigste Markt für Waren aus der Türkei ist. Ganz vorne dabei ist Deutschlan­d.

Die freundlich­ere Tonlage aus Ankara ist allein strategisc­her und wirtschaft­spolitisch­er Natur. Auf die Milliarden aus dem Flüchtling­sdeal ist er mehr denn je angewiesen. Erdogan braucht dringend deutsche Hilfe. Die Bundesregi­erung sollte die Lage kühl nutzen, um Gegenleist­ungen einzuforde­rn. Noch immer befinden sich Deutsche in der Türkei in Haft, noch immer baut der türkische Präsident seine Herrschaft rücksichts­los aus. Dass er die Zukunft des Landes mit diesem Kurs aufs Spiel setzt, begreift er nicht.

Illusionen sind fehl am Platze: Auf die versöhnlic­hen Töne kann schnell wieder ein Zornausbru­ch aus Ankara folgen: Erdogan – da weiß man, was man hat.

Von den Nazi-Vergleiche­n ist keine Rede mehr

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Zeichnung: Haitzinger
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