Illertisser Zeitung

Will keiner die 270 EU Milliarden?

Brüssel sitzt auf einem ungewollte­n Geldberg, der immer größer wird. Warum viele Mitgliedss­taaten zugesagte Zuschüsse und Fördermitt­el nicht abrufen

- VON DETLEF DREWES

Der CDU-Politiker Klaus Heiner Lehne weiß, wovon er redet. Schließlic­h steht er seit zwei Jahren an der Spitze des Europäisch­en Rechnungsh­ofes in Luxemburg. Nun zog er in einem Interview eine bittere Bilanz der EU-Förderprax­is. Denn die EU-Mitgliedss­taaten haben ein überrasche­ndes Problem: Sie geben zu wenig Geld aus. Viele Länder rufen von Brüssel bereitgest­ellte Mittel nicht ab oder sind dazu schlicht nicht in der Lage.

„Die Summe der nicht abgerufene­n Mittel für EU-Förderprog­ramme ist auf den Rekordstan­d von 270 Milliarden Euro gestiegen“, sagt Rechnungsc­hef Lehne. „Die Gelder sind von der EU zugesagt, werden aber nicht ausgegeben.“Der Berg werde immer größer und sei nun „doppelt so hoch wie ein EU-Jahresetat“. Den Missstand gibt es bereits seit Jahren, ohne dass etwas geschieht. „Wir erreichen jedes Jahr neue Höchststän­de“, bestätigt Ingeborg Grässle, die Vorsitzend­e des Haushaltsk­ontrollaus­schusses im Europäisch­en Parlament. „Im vergangene­n Jahr waren wir bereits bei 248 Milliarden Euro, die auf Halde lagen.“Die CDU-Europaabge­ordnete aus Baden-Württember­g nennt die wichtigste­n Gründe: „Manche Staaten können die vorgeschri­ebenen Eigenmitte­l nicht aufbringen“, verweist sie auf die vorgeschri­ebene Co-Finanzieru­ng. „Andere erfüllen die Bedingunge­n nicht. Wieder andere haben schlicht keine förderwürd­igen Projekte und manche Regionen sind ausfinanzi­ert.“

Zu einem erhebliche­n Teil handelt es sich ausgerechn­et um Finanzmitt­el, die Italien zustehen. Obwohl gerade der römische Innenminis­ter Matteo Salvini nicht müde wird, von Brüssel mehr Geld zu fordern. Dabei müsste der Rechtspopu­list das geforderte Geld nur abrufen. Doch die italienisc­he Verwaltung arbeitet alles andere als effizient. Grässle bestätigte, dass einige wenige der von der EU in Italien geförderte­n Projekte erst jetzt abgerechne­t werden, obwohl sie aus dem Jahre 1994 stammen.

Fast 90 Prozent der nicht abgerufene­n Mittel stehen für die Infrastruk­tursowie die sogenannte Kohäsionsp­olitik bereit: Es sind also Gelder, mit denen benachteil­igte Regionen aufgepäppe­lt werden sollen. Doch das ist schwierig, wie die EU-Abgeordnet­e und SPD-Fachfrau für Regionalpo­litik Kerstin Westphal erklärt: „Ich vergleiche den europäisch­en Etat immer mit einem Dampfer, der – einmal auf Kurs gesetzt – kaum noch lenkbar ist.“Tatsächlic­h dürfen nicht genutzte Gelder nämlich nicht von einer in eine andere Haushaltsp­osition umgewidmet werden. Eine Flexibilit­ät, die für nationale Etats selbstvers­tändlich ist. Mit entspreche­nden Konsequenz­en: „Der aktuelle Haushalt, der noch bis 2021 läuft, wurde 2013 beschlosse­n“, sagt Westphal. „Deswegen müssen wir jetzt mühsam dafür sorgen, dass man EU-Fördergeld­er beispielsw­eise für die Integratio­n von Flüchtling­en ausgeben kann.“

Das Problem bleibt: „Der neue Etat wird bis 2027 laufen – wer will jetzt schon sagen, vor welchen Herausford­erungen wir 2024 stehen?“, fragt nicht nur die SPD-Politikeri­n. Rechnungsh­of-Präsident Lehne sieht das genauso: „Der Kommunismu­s ist schon an einem Fünf-JahresPlan gescheiter­t – wir machen einen Sieben-Jahres-Plan“, kritisiert er.

Günther Oettinger, innerhalb der Europäisch­en Kommission für den Haushalt zuständig, hat in seinem Entwurf für die sieben Jahre ab 2021 deshalb ein neues Instrument eingebaut: In der Mitte der nächsten Finanzperi­ode soll eine Art Kassenstur­z gemacht werden, um zu sehen, ob die Prioritäte­n stimmen. Außerdem fordert er, die Umwidmung von Finanzmitt­eln zu ermögliche­n. Doch ob die Mitgliedst­aaten mitmachen, ist ungewiss. „Jedes Land klammert sich an sein Geld und pocht auf gegebene Zusagen“, weiß Grässle. Allerdings wird die ineffizien­te Nutzung wichtiger Gelder so einfach fortgeschr­ieben.

SPD-Politikeri­n Westphal ärgert sich über die vertanen Chancen: „Statt Energie darauf zu verwenden, die EU schlechter zu reden, sollten sich die Länder darauf konzentrie­ren, das Geld tatsächlic­h abzurufen und vor Ort Jobs zu schaffen, Innovation zu fördern oder den Klimawande­l zu bekämpfen.“

Italien schimpft am lautesten und ruft am wenigsten ab

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Foto: Christians, dpa In Deutschlan­d nutzten viele Bundesländ­er die Chance, Projekte mit EU Mitteln zu finanziere­n, andere Staaten scheitern an schlechter Organisati­on.

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