Als die Überlebenden sich mit Musik befreiten
In dem Kloster am Ammersee gab es nach dem Krieg ein Krankenhaus für ehemalige KZ-Häftlinge. 1945 fand hier ein denkwürdiges Konzert statt. Daran erinnerte jetzt eine Veranstaltung mit Anne-Sophie Mutter
Es ist schon eine besondere Geschichte, die sich da unmittelbar nach Kriegsende im Kloster St. Ottilien zugetragen hat. Hier, wenige Kilometer nördlich des Ammersees, wurde auf Betreiben der US-Armee im Frühjahr 1945 ein Krankenhaus für die jüdischen Überlebenden der Konzentrationslager eingerichtet. Drei Jahre lang bildete das
in St. Ottilien einen Ort, an dem die Geschundenen wieder zu Kräften gelangten und neuen Lebensmut fassen konnten. In diesem Kloster kamen bis 1948 auch mehr als vierhundert jüdische Kinder zur Welt, sogenannte „Ottilien Babys“, die dann mit ihren Eltern nach Israel oder in andere Länder auswanderten. Ottilien, so hat es einer der Holocaust-Überlebenden gesagt, war für die damals hier eintreffenden Juden „ein Zaubername“.
Die heutigen Benediktiner des Klosters haben sich in den zurückliegenden Jahren intensiv mit dieser Periode der Geschichte ihrer Abtei auseinandergesetzt. Es gab eine Ausstellung und eine Konferenz, an der auch ehemalige „Ottilien Babys“teilnahmen; zudem verweisen jetzt auf dem weitläufigen Klosterareal zahlreiche Informationstafeln auf jene drei Jahre, in denen die Benediktiner in unmittelbarer Nähe mit den jüdischen Davongekommenen lebten. Und es hat, möglicherweise als Höhepunkt dieser intensiven Aufarbeitung, am vergangenen Sonntag in der Klosterkirche ein Konzert stattgefunden, das Bezug nahm auf das „Befreiungskonzert“, welches kurz nach Kriegsende in St. Ottilien stattfand.
Es war der 27. Mai 1945, als sich Musiker, die zuvor in Musikkapellen der Konzentrationslager gespielt hatten, zu diesem besonderen Konzert zusammenfanden. Nicht in der Kirche, sondern auf einem kleinen Platz im Freien vor dem damaligen Hospital. Der US-Soldat Robert Hilliard, der mit dabei war, hat seine Erinnerungen festgehalten, und sie machen eindrucksvoll deutlich, dass sich da drei Wochen nach der deutschen Kapitulation noch keineswegs lauter gesund gepflegte Juden versammelt hatten. „Reihen von Holz- stühlen waren vor die Bühne gestellt. In den Gängen zwischen ihnen, auf den Stühlen und auf dem Gras standen, saßen, gingen, lehnten und lagen Hunderte spindeldürrer, abgemagerter, blasser, skeletthafter und ausdrucksloser Gestalten, alle in Schwarzweiß – den gestreiften Uniformen der Konzentrationslager.“Dieselbe Kluft trugen auch die Musiker auf der notdürftig zusammengezimmerten Bühne. Und doch, all denen, die sich hier zusammengeschart hatten, war nach Musik, und ausdrücklich verstanden sie die Ver- anstaltung als „Befreiungskonzert“– das Wort steht ganz oben auf dem erhaltenen Programmzettel.
Jetzt also, 73 Jahre nach diesem Ereignis, an selbigem Ort ein Konzert, das bewusst Bezug nimmt auf dieses „Befreiungskonzert“, mit einem jungen Orchester aus Israel und mit der deutschen Stargeigerin Anne-Sophie Mutter. Und doch ist dieses Gedenkkonzert kein tönendes Reenactment, keine bloße Programmwiederholung. Genau genommen finden sich bloß zwei Stücke vom Konzert aus jenem Mai ’45 im jetzigen Programm wieder, beide von Edvard Grieg. Damals erklangen auch noch Ausschnitte aus Georges Bizets „Arlésienne“-Suite und Werke zweier jüdischer Komponisten. Die aber sind jetzt nicht mehr ins Programm gelangt, dafür zwei Lieder des israelischen Komponisten Aharon Harlap, geboren 1941, sowie Schuberts 5. Sinfonie und das A-Dur-Violinkonzert von Mozart. Ursprünglich war Zubin Mehta als Dirigent vorgesehen gewesen, doch der Maestro hatte krankheitsbedingt absagen müssen.
Die Veranstaltung in der Klosterkirche, in Kooperation ausgerichtet mit dem Festival Ammerseerenade, trägt schwer an der Bedeutung, die ihr aufgeladen wird. Vier Grußreden, bevor das Orchester überhaupt den ersten Takt spielt, Reden, in denen es um Verantwortung und um Wachsamkeit geht – die Musik spielt erst einmal eine nebensächliche Rolle bei diesem Konzert.
Dann aber ist es endlich so weit, das mit jungen Musikern besetzte Orchester der Buchmann-MehtaSchool of Music aus Jerusalem intoniert unter der Leitung von Zeev Dorman den Triumphmarsch aus „Sigurd Josalfar“, gefolgt von „Solveigs Lied“(„Peer Gynt“), beides von Grieg. Weshalb, fragt man sich, haben die ehemaligen KZ-Häftlinge für ihr „Befreiungskonzert“ausgerechnet den Norweger Grieg gewählt? Weil ein elegischer Grundton in dieser Musik mitschwingt? Vielleicht auch nur, weil das Notenmaterial vorhanden war. Das junge Orchester aus Israel musiziert jetzt jedenfalls klangschön, wird straff geführt von Zeev Dormann, die Sopranistin Hila Baggio singt anrührend. Das gilt ebenso für die beiden Lieder von Aharon Harlap zu Texten, die vom Holocaust sprechen. Und Schuberts Fünfte hätte, wie Dorman und sein Orchester sie verstehen, auch vor 70 Jahren gut nach St. Ottilien gepasst, als kraftvolles Zeichen eines Neubeginns.
Als letzter Programmpunkt dann Anne-Sophie Mutter mit Mozarts 5. Violinkonzert. Die Geigerin, die das Orchester hier selbst leitet, nimmt den Solopart mit sehr bestimmtem, breitem Strich und variiert im Kopfsatz stark das Tempo, drosselt und beschleunigt in stetem Wechsel. Die Kadenz ist für Mutter ein Trumpf, den sie so selbstbewusster Virtuosität ausstaffiert, die beiden folgenden Sätze sind durch und durch routiniert. Das nachgereichte Bach’sche Ouvertüren-„Air“wird von Mutter als „Gebet“deklariert, gefolgt von der jüdischen Litanei „Awinu malkenu“, gemeinsam zu Orchesterbegleitung angestimmt von Hila Baggio und der Choralschola von St. Ottilien. Den sehr eindrucksvollen Schlusston dieses Gedenkkonzerts intoniert die große Glocke von St. Ottilien.