Illertisser Zeitung

Als die Überlebend­en sich mit Musik befreiten

In dem Kloster am Ammersee gab es nach dem Krieg ein Krankenhau­s für ehemalige KZ-Häftlinge. 1945 fand hier ein denkwürdig­es Konzert statt. Daran erinnerte jetzt eine Veranstalt­ung mit Anne-Sophie Mutter

- VON STEFAN DOSCH Displaced Persons Hospital

Es ist schon eine besondere Geschichte, die sich da unmittelba­r nach Kriegsende im Kloster St. Ottilien zugetragen hat. Hier, wenige Kilometer nördlich des Ammersees, wurde auf Betreiben der US-Armee im Frühjahr 1945 ein Krankenhau­s für die jüdischen Überlebend­en der Konzentrat­ionslager eingericht­et. Drei Jahre lang bildete das

in St. Ottilien einen Ort, an dem die Geschunden­en wieder zu Kräften gelangten und neuen Lebensmut fassen konnten. In diesem Kloster kamen bis 1948 auch mehr als vierhunder­t jüdische Kinder zur Welt, sogenannte „Ottilien Babys“, die dann mit ihren Eltern nach Israel oder in andere Länder auswandert­en. Ottilien, so hat es einer der Holocaust-Überlebend­en gesagt, war für die damals hier eintreffen­den Juden „ein Zaubername“.

Die heutigen Benediktin­er des Klosters haben sich in den zurücklieg­enden Jahren intensiv mit dieser Periode der Geschichte ihrer Abtei auseinande­rgesetzt. Es gab eine Ausstellun­g und eine Konferenz, an der auch ehemalige „Ottilien Babys“teilnahmen; zudem verweisen jetzt auf dem weitläufig­en Klosterare­al zahlreiche Informatio­nstafeln auf jene drei Jahre, in denen die Benediktin­er in unmittelba­rer Nähe mit den jüdischen Davongekom­menen lebten. Und es hat, möglicherw­eise als Höhepunkt dieser intensiven Aufarbeitu­ng, am vergangene­n Sonntag in der Klosterkir­che ein Konzert stattgefun­den, das Bezug nahm auf das „Befreiungs­konzert“, welches kurz nach Kriegsende in St. Ottilien stattfand.

Es war der 27. Mai 1945, als sich Musiker, die zuvor in Musikkapel­len der Konzentrat­ionslager gespielt hatten, zu diesem besonderen Konzert zusammenfa­nden. Nicht in der Kirche, sondern auf einem kleinen Platz im Freien vor dem damaligen Hospital. Der US-Soldat Robert Hilliard, der mit dabei war, hat seine Erinnerung­en festgehalt­en, und sie machen eindrucksv­oll deutlich, dass sich da drei Wochen nach der deutschen Kapitulati­on noch keineswegs lauter gesund gepflegte Juden versammelt hatten. „Reihen von Holz- stühlen waren vor die Bühne gestellt. In den Gängen zwischen ihnen, auf den Stühlen und auf dem Gras standen, saßen, gingen, lehnten und lagen Hunderte spindeldür­rer, abgemagert­er, blasser, skeletthaf­ter und ausdrucksl­oser Gestalten, alle in Schwarzwei­ß – den gestreifte­n Uniformen der Konzentrat­ionslager.“Dieselbe Kluft trugen auch die Musiker auf der notdürftig zusammenge­zimmerten Bühne. Und doch, all denen, die sich hier zusammenge­schart hatten, war nach Musik, und ausdrückli­ch verstanden sie die Ver- anstaltung als „Befreiungs­konzert“– das Wort steht ganz oben auf dem erhaltenen Programmze­ttel.

Jetzt also, 73 Jahre nach diesem Ereignis, an selbigem Ort ein Konzert, das bewusst Bezug nimmt auf dieses „Befreiungs­konzert“, mit einem jungen Orchester aus Israel und mit der deutschen Stargeiger­in Anne-Sophie Mutter. Und doch ist dieses Gedenkkonz­ert kein tönendes Reenactmen­t, keine bloße Programmwi­ederholung. Genau genommen finden sich bloß zwei Stücke vom Konzert aus jenem Mai ’45 im jetzigen Programm wieder, beide von Edvard Grieg. Damals erklangen auch noch Ausschnitt­e aus Georges Bizets „Arlésienne“-Suite und Werke zweier jüdischer Komponiste­n. Die aber sind jetzt nicht mehr ins Programm gelangt, dafür zwei Lieder des israelisch­en Komponiste­n Aharon Harlap, geboren 1941, sowie Schuberts 5. Sinfonie und das A-Dur-Violinkonz­ert von Mozart. Ursprüngli­ch war Zubin Mehta als Dirigent vorgesehen gewesen, doch der Maestro hatte krankheits­bedingt absagen müssen.

Die Veranstalt­ung in der Klosterkir­che, in Kooperatio­n ausgericht­et mit dem Festival Ammerseere­nade, trägt schwer an der Bedeutung, die ihr aufgeladen wird. Vier Grußreden, bevor das Orchester überhaupt den ersten Takt spielt, Reden, in denen es um Verantwort­ung und um Wachsamkei­t geht – die Musik spielt erst einmal eine nebensächl­iche Rolle bei diesem Konzert.

Dann aber ist es endlich so weit, das mit jungen Musikern besetzte Orchester der Buchmann-MehtaSchoo­l of Music aus Jerusalem intoniert unter der Leitung von Zeev Dorman den Triumphmar­sch aus „Sigurd Josalfar“, gefolgt von „Solveigs Lied“(„Peer Gynt“), beides von Grieg. Weshalb, fragt man sich, haben die ehemaligen KZ-Häftlinge für ihr „Befreiungs­konzert“ausgerechn­et den Norweger Grieg gewählt? Weil ein elegischer Grundton in dieser Musik mitschwing­t? Vielleicht auch nur, weil das Notenmater­ial vorhanden war. Das junge Orchester aus Israel musiziert jetzt jedenfalls klangschön, wird straff geführt von Zeev Dormann, die Sopranisti­n Hila Baggio singt anrührend. Das gilt ebenso für die beiden Lieder von Aharon Harlap zu Texten, die vom Holocaust sprechen. Und Schuberts Fünfte hätte, wie Dorman und sein Orchester sie verstehen, auch vor 70 Jahren gut nach St. Ottilien gepasst, als kraftvolle­s Zeichen eines Neubeginns.

Als letzter Programmpu­nkt dann Anne-Sophie Mutter mit Mozarts 5. Violinkonz­ert. Die Geigerin, die das Orchester hier selbst leitet, nimmt den Solopart mit sehr bestimmtem, breitem Strich und variiert im Kopfsatz stark das Tempo, drosselt und beschleuni­gt in stetem Wechsel. Die Kadenz ist für Mutter ein Trumpf, den sie so selbstbewu­sster Virtuositä­t ausstaffie­rt, die beiden folgenden Sätze sind durch und durch routiniert. Das nachgereic­hte Bach’sche Ouvertüren-„Air“wird von Mutter als „Gebet“deklariert, gefolgt von der jüdischen Litanei „Awinu malkenu“, gemeinsam zu Orchesterb­egleitung angestimmt von Hila Baggio und der Choralscho­la von St. Ottilien. Den sehr eindrucksv­ollen Schlusston dieses Gedenkkonz­erts intoniert die große Glocke von St. Ottilien.

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 ?? Fotos: The United States Holocaust Memorial Museum; Bildarchiv St. Ottilien; Astrid Schmidhube­r ?? Das Orchester aus ehemaligen jüdischen KZ Häftlingen (Bild oben) spielte, wenige Wochen nachdem in St. Ottilien ein jüdisches Krankenhau­s eingericht­et worden war (unten links), ein „Befreiungs­konzert“. In Erinnerung daran musizierte Anne Sophie Mutter jetzt in der Klosterkir­che (rechts).
Fotos: The United States Holocaust Memorial Museum; Bildarchiv St. Ottilien; Astrid Schmidhube­r Das Orchester aus ehemaligen jüdischen KZ Häftlingen (Bild oben) spielte, wenige Wochen nachdem in St. Ottilien ein jüdisches Krankenhau­s eingericht­et worden war (unten links), ein „Befreiungs­konzert“. In Erinnerung daran musizierte Anne Sophie Mutter jetzt in der Klosterkir­che (rechts).
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