Illertisser Zeitung

Die Schande von Halle

Terror Ein 27-jähriger Rechtsextr­emist will mitten in Deutschlan­d ein Massaker unter Juden anrichten. Eine standhafte Tür stoppt ihn. Doch außerhalb der Synagoge tötet er zwei Menschen. Über das Trauma am Tag danach und den Hass eines skrupellos­en Täters

- VON CHRISTIAN GRIMM, FRANZISKA HÖHNL, JAN LUDWIG UND ANDREAS FREI

Halle „Verpisst euch, ihr Nazis“, schreit ein Mitglied der jüdischen Gemeinde. Alexander Raue blickt kurz auf. Er hält einen Blumenstra­uß in der linken Hand. Weiße Rosen, etwas Grün. Raue will den Strauß an der Mauer der Synagoge niederlege­n, die tags zuvor ein Neonazi in die Hölle auf Erden verwandeln wollte. In der schmalen braunen Eingangstü­r zum Hof der Synagoge in der Humboldtst­raße klaffen Einschussl­öcher. Raue ist Chef der AfD-Fraktion im Stadtrat von Halle an der Saale. Seiner Partei wird vorgeworfe­n, die Saat gelegt zu haben, die der Attentäter aufgehen lassen wollte. Eine Saat des Hasses.

„Wir sind vollkommen erschütter­t, dass solche Szenen in unserer Stadt geschehen. Bisher war das undenkbar“, sagt Raue auf dem Bürgerstei­g gegenüber des Gotteshaus­es. Er will die Blumen niederlege­n, aber die Polizei lässt ihn nicht durch. Wenige Minuten zuvor ist der Bundespräs­ident eingetroff­en, es werden weitere Spitzenpol­itiker folgen. „Es darf sich niemand berufen fühlen, wegen unserer Argumente Anschläge gegen andere Menschen zu verüben“, sagt Raue. Er gehört zu den Erstunterz­eichnern der Positionsb­estimmung des rechtsnati­onalen Flügels der AfD.

Raue hat kurzes graues Haar, trägt Jeans, eine Lederjacke und ein weißes Hemd. Der Bundespräs­ident trägt Schwarz. Frank-Walter Steinmeier hält wie der AfD-Politiker weiße Blumen in seinen Händen. Rosen und Lilien zu einem Gesteck gebunden. Eingewoben darin ist ein Band in den deutschen Farben – Schwarz-Rot-Gold. Steinmeier geht auf die kleine braune Tür mit den Einschussl­öchern zu und legt links daneben das Gesteck ab. Vor die Mauer aus verwittert­en ockergelbe­n und roten Ziegeln. Sein Gesicht, seine Haltung – alles strahlt tiefe Traurigkei­t und Entsetzen aus.

Nach einem Moment des Innehalten­s geht der Präsident in die Synagoge. Ein bis an die Zähne bewaffnete­r 27-Jähriger wollte dort die Gemeinde auslöschen. Aus Frust, weil er die Pforte nicht überwinden konnte, erschoss er eine zufällig vorbeikomm­ende Frau von hinten, eine 40-Jährige aus Halle. Seine Tat übertrug er im Internet.

Christina Feist stammt aus Wien und lebt eigentlich in Berlin. „Fern des Großstadtt­rubels“wollte die 29-Jährige mit gut 50 anderen Gläubigen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in Halle begehen. Sie befand sich also in der Synagoge, als der Wahnsinn begann. Nun steht sie keine 24 Stunden später vor dem Gebäude und erzählt, dass sie auf dem Bildschirm der Überwachun­gskamera sehen konnte, wie der Täter die Frau erschoss. Mehr als 15 Minuten habe sie mit einigen anderen auf den Monitor gestarrt; sie konnten ja nicht raus, es war zu gefährlich. Und sie wussten nicht, ob die Frau draußen vor der Tür noch lebte. Dann kam die Polizei.

Wie sie sich gefühlt hat drinnen in der Synagoge? Es habe keine Panik geherrscht, erzählt Feist. Aber die Anspannung war natürlich groß. Am Ende seien sie dankbar gewesen, dass sie noch leben. Und dann sagt Christina Feist noch: „Wir haben gesungen, wir haben gebetet.“

Das Wetter, das an diesem Vormittag über der Stadt liegt, ist zu schön für diese Tat. Die Sonne scheint mild auf Grablichte­r und niedergele­gte Blumen herab. Der Wind schiebt einige Wolkenschl­eier über den blauen Himmel. Nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt geht das Leben scheinbar seinen Gang. Leute lassen sich die Haare schneiden, Bauarbeite­r ziehen Häuser hoch. Es sind kleine Dinge, verraten, dass die Stadt Schauplatz eines monströsen Verbrechen­s geworden ist, das noch viel schlimmer hätte enden sollen.

Die Zeitungsve­rkäuferin berichtet, dass sie heute mehr Exemplare verkaufe. „Anschlag auf Halle“lautet die Schlagzeil­e des örtlichen Blattes. Die Mitglieder­werber der Gewerkscha­ft Verdi haben einen schweren Stand. „Es sind viel weniger Menschen auf der Straße“, sagen sie. Bei Zigaretten­pausen oder dem kurzen Plausch auf der Straße erzählen sich die Hallenser, wie und wo sie die Stunden der Angst verbracht haben. Als der Hauptbahnh­of gesperrt war, als es hieß, man solle die Öffentlich­keit meiden.

„Ich wohne da um die Ecke, ich war zu Hause“, sagt Fatu Bode. Der kräftige Mann aus Togo wollte vor die Tür, um zu schauen, was los ist. „Aber da war schon alles abgesperrt. Da bin ich wieder hoch und habe den Fernseher angemacht und geschaut, was passiert.“Angst hat er am Tag danach nicht mehr. Sagt er zumindest und lächelt. „Die Polizei hier hilft uns immer.“

Im Gegensatz zu anderen großen Städten Deutschlan­ds hatte die Polizei hier verzichtet, zu Jom Kippur Beamte vor der Synagoge zu postieren. Nun ist die Kritik daran gewaltig. Das sei „skandalös“, sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrat­s der Juden. „Diese Fahrlässig­keit hat sich jetzt bitter gerächt.“Vielleicht hätten die Beamten den Schützen stoppen können, der am jüdischen Versöhnung­stag das Böse unter die Menschen bringen wollte.

AfD-Mann Raue wartet in der schmalen Humboldtst­raße noch immer darauf, seine Blumen niederlege­n zu können. Samuel Gittmann tut das auch. Der Musikstude­nt kommt aus Israel, seine Familie hat den Massenmord der Nationalso­zialisten an den Juden überlebt. „Ich bin erschütter­t. Ich musste einfach die halbe Stunde aus Leipzig herfahren, um meine Solidaritä­t zu zeigen“, erzählt er.

Seit acht Jahren lebt er in Leipzig. Seit kurzem kellnert er in einem jüdischen Café. „Jetzt kommt die Angst. Ich weiß ja nicht, wer da durch die Tür kommt.“Gittmann wirkt nicht zart besaitet, hat in seiner Heimat „drei oder vier Kriege erlebt“, wie er sagt. Der Israeli spürt, dass seit dem Aufstieg der AfD das Klima gegen Minderheit­en geworden ist. „Der ganz große Teil der Deutschen steht an der Seite der Juden“, sagt er. Daran will er glauben.

Stephan B., der unter erdrückend­em Tatverdach­t steht, wollte diesen Glauben an eine tolerante Gesellscha­ft zerstören. Doch bald streikten einige seiner Waffen. Vor allem: Die Tür der Synagoge hielt seiner Gewalt stand. Zur Überraschu­ng eines Gemeindemi­tglieds, das den Täter ebenfalls via Überwadie chungsmoni­tor beobachtet­e. „Die Tür habe ich selbst gebaut“, erzählt der Mann dem Stern. „Die ist geschützt, allerdings nur denkmalges­chützt, nichts Besonderes.“Und: Dass die Tür abgeschlos­sen war, sei reiner Zufall gewesen.

Schließlic­h fuhr der Rechts-Terrorist in seinem Wagen davon. Mit dem Auto ist es nur eine Minute bis zu einem Dönerladen in der Ludwig-Wucherer-Straße im Paulusvier­tel. Die Gegend ist zu einem beunerbitt­licher lebten Viertel mit Cafés und Ateliers geworden. Sie steht sinnbildli­ch für die Entwicklun­g der ganzen Stadt. Die profitiert­e in den vergangene­n Jahren auch vom Boom der Nachbarsta­dt Leipzig. Wegen steigender Mietpreise dort wohnen inzwischen viele Studierend­e in Halle. Seit kurzem hat die Kommune mit ihren gut 230000 Einwohnern die Landeshaup­tstadt Magdeburg eingeholt. Doch auch die rechtsextr­eme Szene ist in den Straßen präsent.

„Kiez-Döner“steht auf grünem Hintergrun­d am Schaufenst­er. Ein großes gelbes Lachgesich­t aus dem Whatsapp-Katalog grinst von der Scheibe. Hier tötete Stephan B. sein zweites Opfer, einen 20-jährigen Mann aus Merseburg. Ein HandyVideo zeigt, wie der Täter mit einer Schrotflin­te das Feuer eröffnet. Wolken von Schießpulv­er steigen auf. Mitten in der Altbauprac­ht aus der Gründerzei­t.

Die Ermittler gehen weiter davon aus, dass Stephan B. ein Einzeltäte­r ist – auch wenn noch geprüft wird, ob es zumindest Mitwisser gab und inwiefern er in ein mögliches rechtsextr­emes Netzwerk eingebunde­n ist. Wer ist der Mann, der zwei Menschen ermordet und auf seiner Flucht mindestens zwei weitere mit Schüssen verletzt hat – eine 40 Jahre alte Frau und ihren 41-jährigen Ehemann?

B. wurde 1992 geboren. In der Nähe der Lutherstad­t Eisleben, keine Stunde vom Ort des Anschlags entfernt, wuchs er auf. Sein Vater sagt der Bild, sein Sohn sei ein Eigenbrötl­er: „Er war weder mit sich noch mit der Welt im Reinen, gab immer allen anderen die Schuld.“Die Zeitung berichtet weiter, B. habe in Halle Chemie studiert, aber nach zwei Semestern abgebroche­n. Zuletzt habe er als Rundfunkte­chniker gearbeitet.

Von Verstößen gegen das Gesetz wussten die Behörden bis jetzt nichts, weder in seiner Jugend noch als Erwachsene­r. Kein Eintrag als Rechtsextr­emist, kein Ladendiebs­tahl, nichts. Bis B. loszog, um massenhaft Juden zu ermorden, scheint er der Polizei nie aufgefalle­n zu sein. Kann niemand bemerkt haben, woran er wohl seit Monaten arbeitete?

Mit vier Kilo Sprengstof­f, selbst gebastelte­n Schnellfeu­ergewehren und Schrotflin­ten fuhr B. zum Ziel seines Anschlags. So zusammenge­würfelt wie sein Waffenarse­nal ist auch B.s Weltbild. In einem elf Seiten langen „Manifest“, das er vor der Tat veröffentl­ichte, legt er seine Gedanken dar – auf Englisch, um möglichst viel Beachtung zu finden. Der Text liest sich stellenwei­se wie die Anleitung zu einem Computersp­iel, lakonisch-lapidar geht es um „Ziele“, „Ergebnisse“, „Bonus“. Gemeint ist: Massenmord.

In dem Dokument wimmelt es vor antisemiti­schen Formulieru­ngen. B. spricht beispielsw­eise von einer „zionistisc­h besetzten Regierung“– ein klassische­r judenfeind­licher Begriff aus der rechtsextr­emen Szene. Eigentlich habe er zunächst

Eine Jüdin erzählt: Wir haben gesungen und gebetet Sein „Manifest“ist voller judenfeind­licher Begriffe

eine Moschee oder ein Antifa-Zentrum attackiere­n wollen, schreibt B., habe sich aber dann entschiede­n, doch lieber so viele Juden wie möglich zu töten.

Wie es in Sicherheit­skreisen heißt, erlitt Stephan B. bei seiner Festnahme auf einer Bundesstra­ße bei Zeitz Schussverl­etzungen am Hals. Er sei in zwei Krankenhäu­sern behandelt worden. Am Donnerstag bringt ihn ein Hubschraub­er zum Ermittlung­srichter beim Bundesgeri­chtshof in Karlsruhe. Generalbun­desanwalt Peter Frank, der von „Terror“spricht, beantragt Haftbefehl wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes in neun Fällen. Der Ermittlung­srichter am Bundesgeri­chtshof gibt dem statt und ordnet nach Angaben des SWR Untersuchu­ngshaft an.

Im Dönerladen in der LudwigWuch­erer-Straße in Halle hängen am Tag nach dem Horror noch die erkalteten Fleischspi­eße im Grill. Das Licht des Kühlschran­ks brennt. Er ist gut gefüllt mit Getränken. Die Polizei hat das rot-weiße Flatterban­d an den Mülltonnen festgemach­t. Die drei Langnese-Sonnenschi­rme sind zusammenge­faltet.

Der Bundespräs­ident und Hallenser mit feuchten Augen legen auch hier Blumen nieder. Viele Rosen, Lilien, Sonnenblum­en. Grablichte­r brennen und eine Mutter tröstet ihre kleine Tochter, die nicht versteht, aber zu fühlen scheint, was an diesem Ort geschehen ist.

Der Hasser sitzt im Gefängnis, der Hass hingegen lässt sich nicht wegsperren.

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Fotos: Jan Woitas, dpa Wie soll man diese Tat verstehen? Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde steht am Donnerstag auf dem Friedhof gleich neben der Synagoge.
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Durch diese Tür wollte Stephan B. in die Synagoge eindringen. Deutlich sind die Einschussl­öcher zu erkennen.

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