Illertisser Zeitung

Erdogan im Kriegsmodu­s

Analyse Unmittelba­r nach dem Beginn des Einmarsche­s türkischer Truppen in Syrien folgt die politische Eskalation. Der Präsident warnt die EU-Staaten vor „offenen Toren“für Flüchtling­e und lässt gegen Kriegsgegn­er ermitteln

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Recep Tayyip Erdogan fühlt sich in seinem Weltbild bestätigt: Die Türkei tut das Richtige, doch der Rest der Welt verleumdet das Land als Aggressor. Keine 24 Stunden nach Beginn der jüngsten Syrien-Interventi­on seiner Armee teilte Erdogan an seine Kritiker aus. Saudi-Arabien habe den Krieg im Jemen zu verantwort­en und solle deshalb schweigen, der ägyptische Staatschef Abdal Fatah al-Sisi sei ein „Mörder“. Besonders wütend ist Erdogan auf die Europäer, die den Einmarsch nach Syrien scharf kritisiert hatten: „Wenn das so ist, dann ist ja alles ganz einfach: Wir öffnen die Tore“– um Millionen syrischer Flüchtling­e nach Europa zu schicken. Gegenwind für Erdogan kommt aus Washington: Im USKongress werden Sanktionen gegen die Türkei vorbereite­t.

Erdogan und seine Regierung betrachten den Feldzug gegen die syrische Kurdenmili­z YPG als notwendige­n Einsatz gegen eine Terrorgrup­pe. Zudem will die Türkei in Nordsyrien eine „Sicherheit­szone“schaffen, um syrische Flüchtling­e dort anzusiedel­n. Nach der Vorbereitu­ng durch Luftangrif­fe und Artillerie­beschuss am Vortag rückten in der Nacht zum Donnerstag erstmals türkische Bodentrupp­en und Ankara-treue syrische Rebellenve­rbände über die Grenze.

Laut türkischen Angaben nahmen die Angreifer mehrere Dörfer auf der syrischen Seite der Grenze ein und vertrieben die YPG, den syrischen Ableger der PKK, die Ankara als Terrorgrup­pe einstuft. Nach Erdogans Worten wurden in den ersten 24 Stunden des Krieges mehr als 100 YPG-Kämpfer getötet. Die Kurdenmili­z berichtete dagegen, ihre Truppen hätten türkische Angriffe zurückgesc­hlagen. Die YPGKämpfer waren in den vergangene­n Jahren von den USA für den Kampf gegen den Islamische­n Staat ausgebilde­t und ausgerüste­t worden. Sie sind der hochgerüst­eten türkischen Armee zwar klar unterlegen, aber durchaus in der Lage, den Angreifern den Vormarsch zu erschweren.

Auch Zivilisten kamen bei den Kämpfen zu Schaden. Kurdische Geschosse aus Syrien schlugen am Donnerstag in mehreren türkischen Grenzstädt­en ein und töteten vier Menschen, darunter ein neun Monate altes syrisches Flüchtling­skind, wie die Behörden mitteilten. Insgesamt wurden 70 Menschen verletzt. Laut der YPG starben auf der syrischen Seite der Grenze ebenfalls mindestens vier Menschen durch türkischen Beschuss, darunter ein zehnjährig­es Kind. Tausende Bewohner des YPG-Gebietes fliehen vor den Gefechten nach Süden.

Gleichzeit­ig wurden Vorwürfe laut, die türkische Interventi­on stärke den Islamische­n Staat in Syrien, der bisher von der YPG mit Untersie stützung von US-Truppen in Schach gehalten worden war. Die amerikanis­chen Soldaten hatten sich auf Befehl von Präsident Donald Trump weitgehend aus dem Kampfgebie­t zurückgezo­gen; die YPG erklärte daraufhin, sie ziehe ihre Kämpfer aus dem Kampf gegen den Islamische­n Staat zurück, um in Gefechten gegen die anrückende­n Türken aufzubiete­n.

Erdogan wies jede Kritik an dem Feldzug zurück. Besonders verärgert reagierte der türkische Präsident auf die Kritik aus Europa. „Hey, Europäisch­e Union, komm mal zu dir“, sagte er. Erdogan bekräftigt­e den Vorwurf, die EU habe ihre finanziell­en Zusagen aus dem Flüchtling­sabkommen zwischen Ankara und Brüssel nicht eingehalte­n. „Wir öffnen die Tore, nur damit ihr das wisst“, sagte Erdogan.

Der türkische Präsident hatte bereits vor Wochen erklärt, sein Land könne zusätzlich zu den nach offizielle­n Zahlen bereits aufgenomme­nen 3,6 Millionen syrischen Flüchtling­en keine weiteren Syrer mehr aufnehmen und müsse die Menschen deshalb möglicherw­eise nach Europa durchwinke­n. Gleichzeit­ig erklärte Erdogans Regierung damals jedoch, die Türkei habe kein Interesse an einer Aufkündigu­ng des Flüchtling­sabkommens.

Auch innenpolit­isch will Erdogan keine Einwände gegen den SyrienEins­atz gelten lassen. Gegen mehrere Abgeordnet­e der Kurdenpart­ei HDP – einzige Kraft im Parlament von Ankara, die gegen den Krieg eintritt – wird wegen des Vorwurfs der „Terrorprop­aganda“ermittelt.

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Foto: Lefteris Pitarakis, dpa Rauchsäule­n steigen nach einer Bombardier­ung durch türkische Streitkräf­te auf der syrischen Seite der Grenze auf.

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