Hier fruchten die Parolen der polnischen Populisten
Reportage Der Südosten des Landes ist arm. Die Menschen finden das ungerecht. Am Sonntag werden sie wohl nationalkonservativ wählen
Zabrze/Krosno Christian Gytkjaer schiebt den Ball nicht ins leere Fußballtor. Er hämmert ihn unter die Latte. Die kräftigen Männer im Block B winken ab und gehen, um das nächste Bier in der Kneipe zu trinken. Man kann es verstehen. Es ist zugig im Stadion von Górnik Zabrze, und das 1:3 in der Nachspielzeit hat die letzte wärmende Hoffnung sterben lassen. Die Gäste aus Posen nehmen drei Punkte mit in die reiche westpolnische Handelsmetropole, wo man sich sogar einen dänischen Nationalstürmer leisten kann. In Zabrze dagegen, im Herzen des oberschlesischen Kohlereviers, leben sie noch von ehrlicher Arbeit. Aber das funktioniert im 21. Jahrhundert immer seltener.
Natürlich ist die Geschichte vom beherzten Kampf der ehrlichen Arbeiter längst zum Klischee geronnen, nicht nur im Fußball. Das wissen sie auch in Zabrze. Rafal Riedel, der im Revier aufgewachsen ist und bei Górnik eine Dauerkarte besitzt, weiß es sogar besser als die meisten Menschen. Schließlich forscht der Politologe über Muster gesellschaftlicher Kommunikation. Und doch sagt der Fußballfan Riedel, während er das Stadion verlässt, diesen Satz, der die Niederlage vielleicht erklären kann: „Das Budget von Lech Posen ist dreimal so hoch wie das von Górnik.“Also schießt Lech auch dreimal so viele Tore wie Górnik, folgert der Zuhörer.
In der Luft hängt leichter Brandgeruch. Der Herbst ist da, und die Menschen in Zabrze heizen schon ihre Öfen an, meist mit Kohle, weil die hier so schön billig ist, die Löhne aber niedrig sind. Es ist also wirklich wahr, denkt der Zuhörer weiter: Arm hat gegen Reich 1:3 verloren. Wie ungerecht! Damit ist man mitten im polnischen Wahlkampf gelandet. Denn genau das ist die Methode, mit der die nationalkonservative PiS 2015 die Parlamentswahl gewonnen hat. Und nun, vier Jahre später, spinnt sie die Geschichte von den Armen, den Reichen und der großen Ungerechtigkeit weiter.
Alle Umfragen sagen am Sonntag einen Sieg der Nationalkonservativen voraus. Offen scheint nur zu sein, ob die Partei mit ihrem autoritären Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski auch die absolute Mehrheit erreicht. Die Reden des PiSChefs fallen in Schlesien auf fruchtbaren Boden. Zum Beispiel in Bielsko-Biala, 60 Kilometer südlich von Zabrze, wo Kaczynski bei einem Auftritt sagt: „Regieren heißt nicht, bei teuren Zigarren zusammenzusitzen“, und das nehmen die meisten dem oft finster dreinblickenden 70-Jährigen ab, der in einem bescheidenen Haus in Warschau lebt. „Regieren ist harte Arbeit.“
Der Hinweis auf die Zigarren gehört zu Kaczynskis beliebtesten Seitenhieben auf die liberale PO, die bis 2015 regierte. 2014 hatte das Nachrichtenmagazin Wprost eine Reihe illegal abgehörter Gespräche von Regierungsmitgliedern der PO veröffentlicht, die in Warschauer Nobelrestaurants bei erlesenen Weinen und Importzigarren Intrigen spannen. Im folgenden Wahlkampf fiel es der PiS leicht, ihre Geschichte von den hart arbeitenden Normalbürgern und den dekadenten Eliten glaubwürdig unter das Volk zu bringen. Es war eine klassische populistische Erzählung.
Die PiS nutzte ihre erfolgreiche Geschichte aber auch in Regierungsverantwortung weiter. Mit der Begründung, korrupte Eliten entmachten zu müssen, startete die Partei einen Frontalangriff auf die Gewaltenteilung. Sie brachte die Justiz und die Staatsmedien unter ihre Kontrolle. Im Wahlkampf 2019 spielt das Thema Demokratieabbau bestenfalls eine Nebenrolle.
„Vielleicht sind wir Polen gar nicht so freiheitsliebend, wie wir angesichts unserer historischen Unabhängigkeitskämpfe immer behaupten“, sagt Riedel beim Bier, wiegt aber den Kopf: Es ist nur so eine These. Sie lässt sich aber weiterentwickeln. Klar ist, dass sich Polen spätestens seit dem EU-Beitritt 2004 in einem nachholenden Konsumrausch befindet.
Wirtschaftlich betrachtet könnte es nicht besser laufen für die PiS. 2018 erzielte Polen mit einem Wachstum von 5,1 Prozent ein Zehnjahreshoch. Die Arbeitslosenzahl sank zuletzt auf 3,3 Prozent.
„Eine gute Zeit für Polen“, lautet der Slogan der PiS-Kampagne, und das ist bei solchen Zahlen schwer zu widerlegen. Wenn überhaupt, dann im äußersten Südosten des Landes. Die Woiwodschaft Karpatenvorland, die noch immer zu den 20 ärmsten Regionen in der EU zählt, gilt als das finstere Polen. In dem waldreichen Gebiet werden die Straßen schnell schmaler, wenn man sich von Krakau nähert. Dafür stehen häufiger Marienstatuen am Wegesrand, und wer an einem Imbiss hält, hat die Wahl zwischen Eisbein und Kohlrouladen. „Es ist ein konservativer Landstrich“, erklärt Piotr Dyminski, der in der Kreisstadt Krosno für ein regionales Nachrichtenportal schreibt. „Es braucht jemanden, der den Mächtigen auf die Finger schaut“, sagt er. Das gelte für Krosno wie für Krakau.
Wie also steht es um die Wirtschaft im Karpatenvorland? Dyminski führt durch die zentrale Bahnhofstraße. Das ist dem Enddreißiger wichtig, denn er wohnt nicht nur selbst hier. In der Ulica Kolejowa ist auch Robert Biedron aufgewachsen, der im katholischen Polen einst als erster offen schwuler Sejm-Abgeordneter
Parallelen im Fußball:
Die Reichen gewinnen 3:1 Wo der Wald dichter und die Straßen schmaler werden
für Furore sorgte. Und dieser Biedron hat die Bahnhofstraße kürzlich als Getto beschrieben, in dem er „zu sechst auf 30 Quadratmetern groß geworden“sei.
Dyminski dagegen ist Lokalpatriot. „Sehen Sie, überall Büros und Geschäfte“, sagt er stolz. „Die ganze Straße blüht.“Damit spielt er auf die linksliberale Partei Wiosna („Frühling“) an, die Biedron zu Beginn dieses Jahres gegründet hat und mit der er zeitweise zum Hoffnungsträger der Anti-PiS-Opposition aufstieg. Inzwischen ist der erste Glanz verblasst. Wiosna geht am 13. Oktober als Teil einer Linksallianz an den Start, um nicht an der FünfProzent-Hürde zu scheitern.
In voller Blüte steht aber auch die Bahnhofstraße nicht. Bei der Leuchtreklame des „Full Market“fehlt an drei Buchstaben ausgerechnet die Füllung. Immerhin wird viel gebaut. Verarmtes Krosno oder blühendes Krosno? In dieser Frage schimmert wieder die PiS-Erzählung von den fleißigen Normalbürgern auf, die mehr verdient haben als abfällige Kommentare von Menschen wie Biedron. Dyminski selbst ist kein PiS-Mann. In einem ist er sich aber sicher: „Die Linken und die Bürgerlichen haben in ihren Regierungszeiten zu wenig für die Menschen getan. Die Themen für die PiS lagen auf der Straße, und sie hat sie aufgesammelt.“